Kalter Krieg und rotes Telefon 

Der Westen hat den Kalten Krieg vor drei Jahrzehnten gewonnen. Trotzdem wird ein neuer Kalter Krieg heute wieder vielerorts beschworen. Doch die Analogie ist unhistorisch und folgenschwer. Denn die Welt ähnelt heute eher der Machtpolitik des 19. Jahrhunderts.

Ein Kommentar von Maxim Zöllner-Kojnov

Als Kennedy und Chruschtschow während der Kubakrise im Oktober 1962 verhandelten, da telefonierten sie nicht wirklich miteinander – sie telegrafierten. Kuriere brachten die neuen Nachrichten vom Telegrafenamt im Pentagon zum Weißen Haus und umgekehrt. Stunden vergingen. Der damalige Regierungskontakt glich einer Fernschachpartie über den Atlantik hinweg. Konfliktbewältigung im Instrumentenflug. 

Auch das spätere „heiße Telefon“, der sogenannte „rote Draht“ war nie eine echte Telefonleitung, die Kreml und Weißes Haus verband. Wahrscheinlich waren George H. Bush und Michail Gorbatschow die ersten Staatsoberhäupter der verfeindeten Großmächte, die miteinander am Telefon sprachen. Also just in den Stunden, als Gorbatschow im Begriff war, die Sowjetunion aufzulösen und den Kalten Krieg zu beenden. 

Das rote Telefon, das es nie gab und der Kalte Krieg, den ein Mythos umweht – waren Kennedy und Chruschtschow einst vorsichtiger, weil sie nur wussten, dass sie nie wirklich wissen können, was zur Stunde vor sich geht? Oder waren die Missverständnisse umso größer – wie im Mai 1967, als heftige Sonnenstürme und kein sowjetischer Angriff das ballistische Frühwarnsystem des Westens lahmlegten und nuklear bestückte US-Bomber schon gen Startfeld rollten? Ist unsere heutige Welt mit umfassender Aufklärung und unmittelbarer Kommunikation dagegen eine sicherere Welt? 

Zumindest dominiert inzwischen wieder die Logik des vergangenen Konflikts. Der Kalte Krieg, so heißt es in diesen Zeiten immer öfter, ist zurückgekehrt. Sei es der Krieg gegen Russland oder die zunehmende Konfrontation mit China. 

November 1963: Präsident Kennedy besichtigt das Saturn V Raketensystem (links neben ihm der Deutsche Wernher von Braun, Chef des NASA-Weltraumprojekts). Nur knapp entging die Welt in den 60er-Jahren einer atomaren Katastrophe.

Der Kalte Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion war von zivilisatorischem Ausmaß. Die Großmächte kontrollierten ihre jeweiligen Sphären der Welt. Wettbewerb herrschte überall: Ökonomie, Wissenschaft, Technologie und im Sport. Das eigene Gesellschaftsmodell wurde zum einzig akzeptablen Weltbild. Den Staaten der eigenen Sphäre wurde es übergestülpt. Der feindliche Entwurf wurde verteufelt und bekämpft. Das Überwechseln eines Staates in das gegnerische Lager galt es um jeden Preis zu verhindern. 

Der Begriff des Kalten Krieges meint genau das: einen Krieg zwischen Zivilisationen. Sein mutmaßlicher Erfinder, der Staatsmann und Schriftsteller Don Juan Manuel, nutze ihn bereits im 14. Jahrhundert und beschrieb damit den anhaltenden Konflikt zwischen Christentum und Islam. Heute meint der Begriff scheinbar jede diplomatische Verstimmung, jede zwischenstaatliche Turbulenz und jeden Konflikt, der noch nicht in handfeste Gewalt gemündet ist. Das verkennt, was der Kalte Krieg wirklich war. Die Begriffsexpansion führt zu folgenschweren Unschärfen. 

Als der Begriff nach dem Zweiten Weltkriegs von George Orwell neu erfunden wurde, meinte er eine kleine Gruppe übermächtiger Staaten („monstrous super-states“) die die Welt unter sich aufteilten. In der Realität war der Kalte Krieg trotz seiner Schrecken vor allem ein verlässliches System der internationalen Sicherheit. Die Weltordnung war eindeutig. Territorien waren klar und über Bündniszugehörigkeit bestand kein Zweifel. Kurzum: Die roten Linien waren unverkennbar. Jeder wusste, wo die Grenzen verliefen, die besser nicht überschritten wurden. Verglichen mit dem Kalten Krieg leben wir heute in einer Welt ohne System. Eine klare Ordnung gibt es nicht mehr. Es ist offensichtlich: Wir erleben keinen neuen Kalten Krieg. 

Sicher, mit Russland läuft längst ein richtiger Krieg, der an einen Stellvertreterkrieg erinnert. Doch in Wahrheit reicht der Konflikt nicht über Ost- und Mitteleuropa hinaus. Und China? Die kommunistische Partei scheint nicht besonders bestrebt, ihre Prinzipien der ganzen Welt aufzuzwingen. In Wahrheit ist China auf der Welt vielerorts deshalb beliebt, weil es sich gerade nicht sonderlich für die Regierungen, Ansichten oder Wirtschaftssysteme anderer Länder interessiert. Relevant sind einzig Handel und Investitionen. Auf dem afrikanischen Kontinent wetteifern China, Russland und auch der Westen zwar um Einfluss. Doch in Wahrheit geht es dabei um den Zugang zu natürlichen Ressourcen und Sicherheitsinteressen – nicht um den Aufbau ideologischer Einflusssphären und keineswegs um einen Kampf der Zivilisationen.

US-Präsident Biden und Chinas Staatspräsident Xi Jinping. Immer öfter wird zwischen der etablierten und der neuen Großmacht ein neuer Kalter Krieg beschworen. Doch die Analogie ist unhistorisch. 

Während des Kalten Krieges lagen die wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen den Blöcken im niedrigen einstelligen Prozentbereich der jeweiligen Handelsbeziehungen. Heute sind globale Lieferketten nicht ohne amerikanisch-chinesischen Handel vorstellbar. Auch wenn viele inzwischen gelernt haben dürften, dass Handel nicht automatisch Frieden nach sich zieht, so bedeutet dies doch, dass das Verhältnis kompliziert bleibt. Und kompliziert bedeutet: eben keine simple Aufteilung unserer Welt – wie noch zu Zeiten des Kalten Krieges. 

Was aber passiert dann gerade in unserer Welt? Auf den Untergang des sowjetischen Imperiums schien einst der unipolare Moment zu folgen. Heute wissen wir, diese Vorgänge wurden dereinst fundamental falsch verstanden. Statt einer Welt mit einzelnen Hegemonen befinden wir uns längst in einer fragmentierten Welt mit unzähligen politischen Ordnungen. Und die Mächtigen einer Ordnung dominieren längst nicht mehr alle anderen Sphären und Staaten dieser Welt. 

Indien will den Freihandel mit dem Westen stärken. Und doch vervielfacht sich zugleich vor allem der Handel mit Russland. Brasiliens Präsident Lula da Silva möchte mit den Europäern gemeinsam so tun, als würde der Regenwald gerettet werden. Doch am Krieg in der Ukraine ist das überfallene Land in seinen Augen selbst mit schuld. Ungarn oder die Türkei sind Mitglieder der NATO. Und doch verfolgen sie Interessen, die der NATO widersprechen. 

Nach Jahrzehnten der Bündnispolitik und dem Paradigma internationaler Zusammenarbeit sind wir der hobbesschen Anarchie näher denn je. Allianzen folgen auch heute nicht Werten und Überzeugungen, sondern dem Nutzen und der Bequemlichkeit. Internationale Politik ist rücksichtlos und gefährlich. Wir sollten aufhören zu versuchen, ein System zu sehen, wo es gar kein System gibt. Erst durch diese Fehleinschätzung lassen wir Staatenlenker wie Xi Jinping oder Vladimir Putin allmächtiger wirken, als sie in Wirklichkeit sind.