Kinder, warum seid ihr nur so dick?

Von Klaus Kimmel

Es ist eine schöne Tradition, dass jährlich in diesen Wochen in den Regionalzeitungen Gruppenfotos von Mädchen und Jungen abgebildet werden, die die Konfirmation oder Jugendweihe erhalten. Bleibende Erinnerung an den Schritt in die Erwachsenenwelt und zugleich Signal an uns: Seht her, wir kommen.

Während meiner Urlaubstage an der Ostsee sah ich eine Woche lang täglich solche Fotos. Festlich gekleidete 14-jährige. Meist freundlich, frohgemut lächelnd. Einige (mehrheitlich Jungs) eher skeptisch blickend. Die Mädchen mit Hang zum langen Kleid. Der ein oder andere Junge fremdelte offensichtlich mit seinem ersten Anzug. Ja, das sind diejenigen, die die Zukunft gestalten werden. Viel anders haben wir in diesem Moment auch nicht ausgesehen – von modischen Unterschieden einmal abgesehen.

Was mir beim genaueren Betrachten der Bilder auffiel: Viele der künftigen Erwachsenen sind übergewichtig. Mehrfach fast 30 bis 40 Prozent der Abgebildeten! Künftige Herz-Kreislauf-, Diabetes- und Krebs-Patienten, die das System der Kassen erheblich belasten werden. Sie werden die Statistik der frühen Sterblichkeit der Deutschen nicht verbessern. Gerade schreckte auf, dass wir diesbezüglich im Ranking von 16 europäischen Ländern auf Rang 14 liegen – bei den mit höchsten Gesundheitsausgaben. Dafür rangieren wir im weltweiten OECD-Ranking der Länder mit dem meisten Übergewicht (60 Prozent der Bevölkerung) auf Platz zwölf. Spitze ist da Mexiko (75,2 Prozent), dieweil Japan mit 27,2 Prozent Übergewichtigen das Schlusslicht in dieser Statistik bildet, dafür in der Lebenserwartung aber unter den Top-Five ist.

Kinder, warum seid ihr nur so dick? Waren wir das in dem Alter auch? Auch wir waren da in der Pubertät. Auch unseren Lebensrhythmus bestimmt der Schulalltag, mit Samstagsunterricht bis 12:00 Uhr. Psyche und Hormone spielten da ebenfalls verrückt. Das Urteil der Freunde war uns wichtiger als jeder gutgemeinte Rat der Eltern. Alles wie heute.

Für die Beantwortung meiner Fragen kramte ich mein Klassenfoto von 1961 hervor. Von 38 Schülern waren sichtbar zwei übergewichtig. „Bärchen“ Michael und Bernd. Unsere Lebenswirklichkeit sah so aus: Wir waren immer in Bewegung. Zur Schule kamen wir zu Fuß oder per Fahrrad. Unsere Spielplätze waren die Straße, Parks und Hinterhöfe. Wir spielten Völkerball, Fußball und Fangen. Wir hatten regelmäßig Sportunterricht und nach einem 60-,100-m- oder 1000-m.Lauf kam kein Elternteil auf die Idee, bei den Lehrkräften eine Überbelastung ihres Kindes zu reklamieren. Viele waren zudem in einem Sportverein. Auf den Tisch kamen Kartoffeln, saisonales Gemüse aus dem Garten oder der Region. Wir tranken Limonade und Kuhmilch. Laktoseintoleranz war ein Fremdwort so wie auch vegetarisch oder vegan. Fleisch gabs einmal in der Woche, Süßigkeiten waren für Festtage oder eine gute Schulnote vorbehalten. Kurz: Wir ernährten uns wie damals üblich. Vernünftig, wie die Eltern sagten.

Regelmäßige Bewegung – selbst im Kindesalter keine Selbstverständlichkeit mehr…

Das Robert-Koch-Institut stellt fest, dass gegenwärtig 15 Prozent der um 14-jährigen übergewichtig sind, Tendenz stabil. Zu anderen Ergebnissen kommen die Krankenkassen. Die Kaufmännische Krankenkasse Hannover stellt fest, dass die Zahl, besonders in der Corona-Pandemie, bundesweit deutlich gestiegen ist. Zwischen 2011 und 2021 erhöhte sich die Zahl der von Adipositas (Fettleibigkeit) betroffenen 15- bis 18-jährigen um 42,5 Prozent. Bei den männlichen Jugendlichen gar um 54,5 Prozent. Die Barmer Krankenkasse registrierte bei über sie versicherten Jugendlichen in Mecklenburg-Vorpommern eine Steigerung von 49 Prozent. Bei Adipositas nimmt das Bundesland zugleich die negative Spitzenposition unter den Bundesländern ein. Das wohlhabende Bayern hingegen hat nur ein Drittel der Fälle und damit die wenigsten aufzuweisen.

Ärzte schlagen seit langem Alarm. Sie beklagen Bewegungsarmut und falsche Ernährung. Und fehlende Prävention. Jetzt darin investiertes Geld würde viele höhere Ausgaben im Alter ersparen.

Im Schnitt sitzen die Jugendlichen am Tag 110 Minuten vor dem Computer/Handy, viele aber auch über mehrere Stunden. Besonders Jungen. Hochkalorische Lebensmittel wie Softdrinks, Schokolade, Chips oder Fertiggerichte befördern das Übergewicht. Die Folgen: Mobbing, Diskriminierung, geschwächtes Selbstwertgefühl, Depressionen, die zu noch mehr Naschen führen. Ein Teufelskreis.

In diesen geraten vor allem – auch das belegen diverse Studien – Jugendliche aus sozial schwachen Elternhäusern und weniger gebildeten Schichten. Ihnen wird gesundes Leben zum einen seltener vorgelebt. Oder kann zum anderen nicht finanziert werden, weil frisches Gemüse und Obst teurer als Tiefkühl-Pizzen und Sportkurse oder Vereinsmitgliedschaften nicht erschwinglich sind. Auch eine Ursache, warum im finanziell schwächsten Bundesland Mecklenburg-Vorpommern besonders viele übergewichtig sind. Apelle für das Verbot von Werbung für ungesunde (Süß-)Waren sind löblich. Wichtiger wären aber mehr Sportlehrer, kostenfreie Sportangebote für bedürftige Jugendliche und das Einwirken der Eltern auf ein gesundes Leben. Denn die Ausprägung für eine gesunde Lebensweise in jungen Jahren trägt durch das gesamte Leben.

Dieser Tage hatten wir ein Klassentreffen. Abgesehen von ein, zwei altersbedingten Pfunden mehr, waren alle mit 76 Jahren in körperlich guter Verfassung. Sie spielen noch regelmäßig Tischtennis, sind aktive Taucher, gehen in die Berge Wandern oder fahren regelmäßig Rad – ohne E. Und unsere zwei Dicken? „Bärchen“ trägt medizinisch gut versorgt immer noch seine überflüssigen Pfunde mit sich herum. Bernd ist vor zwei Jahren verstorben – Herz-Kreislauf-Versagen.