Alter weißer Mann, was nun?

Für alle Übel und das Böse in unserer Welt haben die Kulturrevolutionäre der Politischen Korrektheit einen Sündenbock gefunden: den alten, weißen Mann. Er steht für Kolonialismus, Rassismus und Sexismus; er soll schuld sein an der Armut der Dritten Welt, an der Zerstörung der Natur und am menschengemachten Klimawandel. Wenn man den Sündenbock in die Wüste schicken könnte, gäbe es keine Diskriminierung mehr, die Welt wäre endlich friedlich, tolerant, divers, bunt, und die Menschen stünden wieder im Einklang mit der Natur. Das ist der Kern einer Erzählung, die heute von den meisten Medien und Bildungsanstalten verbreitet wird.

Ein Gastbeitrag von Prof. Norbert Bolz

Der Hass ist wie das Böse so alt wie die Menschheit. Es gibt also keinen Grund für Kulturpessimismus: Wir sind nicht schlimmer geworden. Aber der alte Hass hat durch die neuen Medien eine neue Sichtbarkeit gewonnen. Wie oft möchte man seiner Wut freien Lauf lassen, reißt sich dann aber doch zusammen. Eine interessante alltägliche Ausnahme davon bietet uns das Autofahren. Da kann man dem unfähigen anderen dann doch durch die Windschutzscheibe unhörbar zurufen: Penner, Idiot! Oder gar den berühmten Mittelfinger zeigen. Die Begegnung dauert ja nur eine Zehntelsekunde. Genau denselben Enthemmungseffekt haben die Sozialen Medien. Der griechische Philosoph Platon meinte einmal: Wir sind alle Mörder – aber im Traum. Nur einige wenige tragen diesen Hass dann in die Wirklichkeit.

Und offensichtlich versetzen uns die Medien in eine Traumzeit, die vor allem von Prominenz bestimmt wird. Seit es Massenmedien, aber vor allem seit es Soziale Medien gibt, fühlen sich viele Menschen mit den Berühmten, Erfolgreichen und Mächtigen auf Augenhöhe. Prominenz provoziert »Hater«. Denn der »Hater« ist ein Niemand, ein Verlierer, ja oft ein Wahnsinniger. Auch er ist so alt wie die Menschheit. Aber heute ist er nicht mehr allein. Das Internet hat den Verlierern dieser Welt zum ersten Mal die Chance eröffnet, sich zu organisieren. Ein Verrückter war früher ein Sonderling, ein Außenseiter der Gesellschaft. Heute findet er seinesgleichen massenhaft im Internet. Jeder Wahnsinn hat seine Website.

Wenn man sich das klar macht, wird auch deutlich, wie eng das Thema Hass mit dem Thema Lüge verzahnt ist. Und es wird auch klar, warum die Kräfte der Aufklärung hier vergeblich arbeiten. Wer heute gegen »Fake News« kämpft, muss an die Idee der Objektivität appellieren. Aber das ist problematischer denn je. In den goldenen Zeiten der Aufklärung war man sich noch sicher, dass man Ideologien entlarven und den betrügerischen Schein durch die Wahrheit ersetzen kann. Doch im Zeitalter der Informationsüberlastung fehlt uns die Zeit zur Prüfung. Was der Sozialphilosoph Jürgen Habermas einmal die neue Unübersichtlichkeit nannte, ist zum Normalfall geworden. Die Welt ist hochkomplex, hochgeschwind und unprognostizierbar.

In seinem neuen Buch analysiert Norbert Bolz den Begriff und zeigt, dass der alte weiße Mann zur zentralen Symbolfigur in einem kulturellen Bürgerkrieg geworden ist.

An der Flüchtlingskrise können wir uns dieses Problem genauso gut klarmachen wie an den Corona-Maßnahmen oder der galoppierenden Inflation. Alles scheint ungewiss – sicher ist nur das Gefühl des Kontrollverlusts. Was soll in diesem Zusammenhang nun aber »objektive Berichterstattung« heißen? So tritt die Glaubwürdigkeit einer Informationsquelle an die Stelle des unmöglichen Realitätstests. Das gilt übrigens auch für die »Nachrichten aus aller Welt« – man denke nur an den Ukraine-Krieg. Immer häufiger haben die Medien gar keinen Reporter mehr vor Ort und müssen sich dann auf das Material der beteiligten Konfliktparteien verlassen. Im Fernsehbild sieht man dann zum Beispiel die Einblendung »Quelle: YouTube«. Damit gesteht man immerhin ein, dass man von Objektivität meilenweit entfernt ist. Der Soziologe Niklas Luhmann bemerkte einmal, dass wir unser Wissen von der Welt den Massenmedien verdanken. Um dann aber sarkastisch hinzuzusetzen, dass es sich eigentlich um ein Nichtwissen handelt, das nur deshalb nicht als solches erkannt wird, weil wir immer wieder durch neue Informationen überflutet werden. Dass die Nachrichten mit ihren Fakten nicht Wissen, sondern Nichtwissen produzieren, ist zunächst einmal eine steile These, die provozieren will. Aber sie bekommt doch einen guten Sinn, wenn man bedenkt, was Informationen eben nicht liefern: Kontext. Nur freie Assoziation wäre in der Lage, in den fünfzehn Minuten »Tagesschau« einen Zusammenhang zu sehen. Aufklärung jedenfalls ist das nicht. Deshalb kann es nicht erstaunen, dass die Menschen auf der Suche nach Orientierung nicht nach Fakten, sondern nach Fiktionen verlangen. Und hier wird eine zweite Naivität der Aufklärung deutlich, der Glaube nämlich, dass die Menschen die Wahrheit suchen und den Schein fliehen.

Der Kulturhistoriker Johan Huizinga hat die extreme Gegenthese gewagt: Wir wollen betrogen werden. Das klingt in den Ohren eines Aufklärers natürlich ungeheuerlich. Aber man muss nur an die Werbung denken, um sofort zu verstehen, was gemeint ist. Kein halbwegs normaler Mensch glaubt wirklich, dass es Cremes gibt, die Falten und Orangenhaut beseitigen, oder dass es Tinkturen gibt, die Haarausfall stoppen. Aber es ist schön, sich eine Zeit lang der Illusion hinzugeben. Man will sich selbst täuschen und ist der Werbung dankbar dafür, dass sie dabei hilft. Und genau das machen sich die Produzenten von »Fake News« zu nutze. Falschmeldungen wirken nämlich auch dann, wenn man weiß, dass sie falsch sind. Das markiert die Grenze jeder möglichen Aufklärung. Wenn jemand betrogen werden will, um bessere Empfindungsbedingungen zu haben, kann man ihm nicht mit besseren Argumenten kommen. Und gegenüber dem Chaos der Fakten aus aller Welt hat der Wahn den Vorteil, Ordnung zu schaffen.

„Der alte, weiße Mann – Sündenbock der Nation“ von Prof. Norbert Bolz, ist im Verlag Langen-Müller erschienen. 265 Seiten – 24,00 Euro.