Ich wundere mich über den Aufschrei, der in Sachen Judenfeindlichkeit gerade durch unser Land geht. Antisemitismus ist seit Jahren präsent in unserer Gesellschaft. Schon vor 30 Jahren sagte mir ein Übersetzer, mit dem ich zusammenarbeitete, dass in seinem Flur ein Koffer zur Flucht bereitstünde. Er war Jude. Jüdische Freunde, die vor Jahren aus Moskau flohen, erzählten mir im März dieses Jahres dasselbe. Die ganze Familie sei angewiesen, einen gepackten Rucksack griffbereit zu haben. Ich hörte das und staunte. Der Terrorangriff der Hamas auf Israel vom 7. Oktober war zu diesem Zeitpunkt noch ein halbes Jahr entfernt.
Wenn es heute um Antisemitismus geht, frage ich mich immer wieder: Sind wir Menschen nicht alle gleich? Haben wir nicht alle dieselben Bedürfnisse? Meine Naivität mag mir zum Vorwurf gemacht werden, aber ich möchte einfach nicht begreifen, dass ein Mensch wegen seiner Religion, Hautfarbe oder Herkunft anders behandelt wird als jeder andere Mensch. Bin ich allein mit dieser Ansicht oder gehöre ich zu einer schweigenden Mehrheit, die nicht sichtbar ist?
Seit die Ereignisse im Nahen Osten am 7. Oktober auf nie dagewesene Weise eskalierten, bin ich nicht auf die Straße gegangen und habe mir auch keine Fahne umgehängt. Denn ich tue mich ehrlich schwer damit, für den einen oder anderen Partei zu ergreifen. Eines weiß ich für mich aber ganz klar: Gewalt solle nie Antwort oder Lösung sein.
Das einzige Zeichen, das ich sichtbar trage, ist einen kleine Brosche aus Perlmutt an meinem Mantel, eine Friedenstaube. Meine Freundin aus Bethlehem, eine Christin, hat sie mir geschenkt, als ich das letzte Mal dort zu Besuch war. „Ich mache Dich zu einer Friedensbotschafterin“, sagte sie. Die Brosche erinnert mich jeden Tag daran: Stifte Frieden und fange in Deinem Umfeld an, bei der Familie, den Freunden, den Nachbarn und in Deinem Arbeitsumfeld. Du wirst die Welt nicht ändern, aber im Kleinen kannst Du wirken.
Geben wir einander die Hand und halten wir aus, dass der andere anders denkt. Der andere heißt so, weil er anders ist, hat meine Mutter immer gesagt. Sei neugierig und mach Dir den anderen zum Abenteuer.
In Artikel 1 des Grundgesetzes heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Alles andere ergibt sich daraus, nicht nur für die staatliche Gewalt, die zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde verpflichtet ist. Das gilt für jeden Menschen, wir alle sollten so handeln, dass wir ein Miteinander in Würde pflegen können.
Friedensstifter in einer aufgebrachten Menge zu sein, kann herausfordernd sein. Es erfordert Mut und das klare Bekenntnis zu Menschenwürde, Nächstenliebe und Gewaltfreiheit. Fangen wir bei uns selbst an. Sprechen wir aus, dass Gewalt nicht tolerierbar ist. Was glauben wir, wofür stehen wir? Manchmal zeigen wir das zum Beispiel, indem wir Kippa tragen oder Kopftuch oder ein kleines Kreuz. Sichtbare Glaubenszeichen sollten in meiner Welt immer auch Zeichen des Friedens sein und zur Versöhnung einladen. Das Tragen einer Kippa als Ausdruck religiöser Zugehörigkeit ist in unserem Land seit Jahren gefährlich. Vor dieser bitteren Realität dürfen wir nicht die Augen verschließen. Teilen wir unsere Sorge um den Frieden und die Versöhnung und treten wir für die Toleranz und Achtung unserer Nächsten ein. Wir haben schon alles an Gesetzen. Wir müssen uns nur dranhalten – und zwar alle. Passen wir aufeinander auf!
Über die Autorin Julia Sebastian
Studium der Kommunikationswissenschaften an der Freien Universität Berlin und an der University of Indiana, Bloomington (USA). Nach ihrer Ausbildung war Julia Sebastian als freie Journalistin tätig, unter anderem für den heutigen Rundfunk Berlin-Brandenburg. Anschließend war sie Pressereferentin der Botschaft der Vereinigten Staaten in Berlin. Seit 2009 ist sie als freie Journalistin und Beraterin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit selbstständig. Für WMP bearbeitet sie vor allem Mandate im Bereich der strategischen Unternehmenskommunikation.