Der 9. November steht dieses Jahr unter einem besonderen Fokus. Politiker, Vertreter der Zivilgesellschaft sowie Organisationen werden die Wichtigkeit, die Bedeutung des 9. Novembers im Zuge der aktuellen Weltlage hervorheben. Die Verbrechen von damals scheinen seit den Angriffen auf Israel durch die Hamas-Terroristen wieder näher und greifbarer. Auch wenn der Eindruck der letzten Jahre vermuten lässt, dass wir unsere eigene Geschichte mehr und mehr vergessen. Gerade die jüngeren Generationen sehen keine Notwendigkeit mehr, sich damit intensiv auseinanderzusetzen. Was sagen wir ihnen? Der 9. November ist ein Tag zum Trauern? Er ist mehr als das.
Wir haben vor kurzem erst die Bilder in Berlin gesehen. Auf dem erklommenen Neptunbrunnen vor dem Roten Rathaus werden palästinensische Fahnen geschwungen und Parolen gegen Juden und Jüdinnen gebrüllt. Eingriffe der Polizei? Eher an Litfaßsäulen, um Plakate von entführten jüdischen Babys, Frauen und Männern abzureißen. Begründung? Erst Impressumspflicht, dann Sachbeschädigung. Ein kompletter Totalausfall seitens der Berliner Sicherheitskräfte. Aber es gibt anscheinend auch eine Berliner Räson, die wohl im Konflikt mit der Deutschen Staatsräson steht.
Trauern heißt zum einen, den schrecklichen Taten zu gedenken und ihre Bedeutung für nachfolgende Generationen zu betonen. Zum anderen erwächst genau daraus eine Pflicht. Keine Wünsche oder Vorschläge, sondern eine Pflicht. Eine Pflicht, die sich nicht allein in Gesetzen und Verordnungen niederschreiben lässt. Eine Pflicht, die von allen Teilen, die sich unserer Gesellschaft zugehörig fühlen, ein Bewusstsein voraussetzt, das eben keine Anweisungen braucht, wie in bestimmten Situationen zu handeln ist. „Nie wieder ist jetzt“ und andere Bekenntnisse sind wichtig, aber sie müssen gelebt werden. Sie müssen umgesetzt werden. Beschämende Bilder aus allen Teilen der Republik lassen erahnen, dass diese Pflicht nicht in jenem Umfang in unserer Gesellschaft verankert ist, wie sie es eigentlich sein sollte und wir es gedacht haben.
Also wie umgehen mit einer dunklen Geschichte, der aktuellen Kriegslage und einer Gesellschaft, die ab und zu scheinbar ihren Wertekompass missachtet oder sich leicht zwischen den Polen hin und her schubsen lässt? Mit einem klaren Auftreten, das im Gegensatz zu den bisherigen Bekenntnissen unwiderruflich an ein ganz bestimmtes Verhalten geknüpft ist. Das gilt auch für politische Amtsträger. Beim kleinsten Verstoß, der gegen unsere Werte verstößt, muss gehandelt werden – auch wenn im Nachhinein Konsequenzen drohen. Helmut Schmidt räumte seinen Ministern in der Zeit der RAF-Terrors Befugnisse ein, die „über das Grundgesetz hinausgehen“. Unvergessen ist auch die BILD-Schlagzeile vom 16. September 1977: „Wir besiegen die Terroristen!“
Deutschland ist ein freies Land im Herzen Europas und ein Verteidiger der Demokratie. Deutschland ist keine Spielwiese für Extremisten und Menschenhasser. Eine klare Linie muss gezogen werden: Bis hier hin und nicht weiter. Dazu braucht es aber neben diesem klaren Verständnis eine Bevölkerung, Politiker und öffentliche Personen, die das verkörpern und gegen jeden Widerstand verteidigen können. Sonst ist jede weitere Anteilnahme und Mitgefühlsbekundung überflüssig.
Wir als Gesellschaft sind uns nicht einig. Wir sind alle Bundestrainer, Impfstoffexperten, Klimaexperten und Nahostexperten sowieso. Die Meinungen driften auseinander. Alles darf gesagt werden, aber gleichzeitig auch nicht. Die Vorstellung, wie die Zukunft unseres Landes aussehen soll, liegt in den Gedächtnisschubladen der Menschen. Neben den Urkunden der Bundesjugendspiele und löchrigen Geschichtskenntnissen. Wie wäre es, wenn wir uns ernsthaft darüber Gedanken machen würden, wie wir in Zukunft in Deutschland, in Europa leben wollen? „In jeder Krise liegt auch eine Chance“ – der Klassiker. Nach einem Krisenmarathon der letzten Jahre wäre es doch mal an der Zeit, wenigstens eine Chance zu nutzen.
Vielleicht ist diese Zeit jetzt. Vielleicht finden wir jetzt den Mut, uns alle klar und deutlich zu positionieren und auch den zukünftigen Generationen etwas mitzugeben. Keine klugen Sprüche, sondern Empathie, Menschlichkeit und ein unerschütterlicher Optimismus, der an eine Zukunft glaubt, für die es sich zu kämpfen lohnt. Jeden Tag und überall.
Dann hätten wir etwas erreicht. Dann würden wir aus den schrecklichen Taten lernen und sie mit Würde und Respekt als Warnung und Mahnung für die Zukunft betrachten. Denn die Weltlage zeigt, dass sich von einem auf den anderen Tag vieles, für Betroffene alles, ändern kann. Heute wie damals.
Wir müssen bereit sein, zu helfen und zu handeln. Die Politik, aber auch jeder von uns.
Am 9. November und an jedem anderen Tag.
Das ist unsere Pflicht.