Ein Buch als Mahnmal

Es gibt Bücher, die verkörpern Leben und Tod, sie sind Momentaufnahme und Schicksal – alles in einem.

Ich besitze so ein Buch: das originale Berliner Telefonbuch von 1941. Gerade gab das Statistische Bundesamt bekannt, dass sich Berlin in der Bevölkerungszahl der von 1942 annähere (4,5 Millionen Einwohner), also fast dem Jahr, dessen Telefonbuch ich besitze. Im letzten „amtlichen Telefonbuch der Reichshauptstadt“, so der damalige Name, sind 315.000 Anschlüsse registriert. Max Planck steht in diesem Telefonbuch, Ferdinand Sauerbruch, Lale Andersen, Hans Albers, Käthe Kollwitz, Gottfried Benn, Erich Kästner, Jochen Klepper. Nazis wie Wilhelm Keitel, Erich Raeder, Albert Speer und Roland Freisler, große Maler, Sportler, Trainer wie Sepp Herberger, der spätere Bundespräsident Theodor Heuss.

Was aus den Trägern dieser berühmten oder berüchtigten Namen wurde, wissen wir. Die einen brachten dem Menschen Kunst, Kultur, Fortschritt, ein bisschen Glück in schwerer Zeit. Die anderen brachten Leid und Tod, Mord und Verfolgung. Sie alle teilen dieses eine Telefonbuch. Das Schicksal der anderen Telefonbesitzer kennen meist nur deren Angehörige.

Meine Großmutter und ihre Familie stehen auch in diesem Dokument: Fritz Dittmann, Kaufmann, Siemensstraße 52, Berlin Lankwitz. Telefon: 732783. Diese Nummer hatte meine Großmutter bis zu ihrem Tod in den 70er Jahren. Das deutsche Postwesen und die ausgegebenen Telefonnummern haben Diktatur, Zerstörung, Wiederaufbau, Wirtschaftswunder mühelos überlebt – immer mit der gleichen sechsstelligen Telefonnummer.

Ein altes Telefonbuch ist wie der Roman einer Stadt. Das Berliner Telefonbuch von 1941 aber ist mehr: Es ist wie ein Klartext der Geschichte. Es ist ein Mahnmal für alle Zeiten. Denn fast versteckt – von Historikern wie Hartmut Jäckel zum Leben erweckt – befinden sich rund 5.000 Anschlüsse jüdischer Mitbürger. Viele Rechtsanwälte und Ärzte, die aber ihre Berufsbezeichnung nicht mehr führen durften. Sie mussten als Zusatz zu ihren Familiennamen die Worte „Israel“ oder „Sarah“ tragen.

Das Holocaust-Mahnmal im Herzen Berlins. Eine Erinnerung an die ermordeten Juden in Europa. Auch im Berliner Telefonbuch von 1941 finden sich Spuren dieses Schicksals.

Das Holocaust-Mahnmal im Herzen Berlins. Eine Erinnerung an die ermordeten Juden in Europa. Auch im Berliner Telefonbuch von 1941 finden sich Spuren dieses Schicksals.

Ich nenne einige Namen aus dem Telefonbuch, stellvertretend für viele: Dr. med. Leopold „Israel“ Arnheim, Brunnenstraße 194. Zahnarzt Dr. med. Martin Gabrielski „Israel“ aus der Lietzenburger Straße 51. Dr. med. Ella „Sara“ Lissner, Augenärztin Potsdamer Straße 173, im Telefonbuch „Augenbehandlerin“. Zahnärztin Paula „Sara“ Jacobsohn, Kantstraße 141. Die Anführungszeichen stammen von mir. Möge es mir der Leser verzeihen.

Was nicht im Telefonbuch steht, haben Historiker in akribischer Jahrzehntelanger Recherchearbeit herausgefunden und zusammengetragen: Dr. Arnheim wurde  nur ein Jahr später, am 29.12.1942 im KZ Theresienstadt ermordet. Zahnarzt Dr. Gabrielski wurde am 9.12.1942 in Auschwitz ermordet. Dr. Ella Lissner starb am 22.10. 1942 in Riga. Auch Paula Jacobsohn wurde in Riga ermordet. Ihr Todestag: 29.10.1942. Das Berliner Telefonbuch von 1941 – ein einmaliges Dokument, obwohl es nur eine Liste von Namen und Telefonnummern enthält.

Es ist ein unvergängliches Mahnmal – es gemahnt uns nie zu vergessen.

Louis Hagen ist Senior Advisor im Berliner Büro der WMP EuroCom AG. Jeden Samstag erscheint seine „Kolumne fürs Leben“ in BILD.