Für immer abgehängt?

Im 33. Jahr der deutschen Einheit sind die Gräben zwischen Ost und West scheinbar tiefer denn je. Der Ostdeutsche ist für den Wessi offenbar immer noch ein unbekanntes Wesen. Der Ossi fühlt sich zurückgesetzt und bevormundet. Und die Politik? Sie vermeidet schlichtweg das Thema.

Von Klaus Kimmel

„20 Jahre“ war 1991 meine Antwort auf die Frage des Chefs eines großen deutschen Verlages, wie lange es bis zur wirklichen Einheit dauern wird. Nach ungläubigen Lachen folgte von ihm voller Überzeugung: „In maximal zehn Jahren ist das geschafft.“

Heute wissen wir: Wir beide haben uns geirrt. Im Jahr 33 nach der offiziellen Einheit sind wir von einer wirklichen Einheit noch weit entfernt. Gewiss gibt es zwischen Usedom und Oberhof die versprochenen blühenden Landschaften und ein gewachsener Wohlstand ist unübersehbar. Straßen, wo einst nur Sandwege waren, schmucke Häuser statt Einheitsgrau und Verfall sowie Zweitwagen statt Trabant in der Garage. Da sieht es in manchen Orten an der Ruhr deutlich trister aus. Nur Ignoranten oder ideologisch Verbohrte streiten das ab. Die dunklen Zeiten will selbst die LINKE nicht zurück.

Gleichwohl scheint der Graben zwischen den Menschen in Ost und West heute tiefer denn je. Längst verblasst der Einheitstrubel. Der Ossi ist für einen Großteil der Westdeutschen das unbekannte Wesen. Warum sind ausgerechnet die Diktaturgeschädigten Putin-Versteher und notorische Rechtswähler? Warum Ewig-Nörgler, aber nur bedingt leistungswillig? Warum sind sie nicht froh über das nie gekannte Konsumangebot und einen Sozialstaat, von dem Menschen in anderen postkommunistischen Ländern nur träumen können?

Die Politik mogelt sich mehr oder weniger gekonnt an den Antworten vorbei. Dauerkanzlerin Angela Merkel hat sich in ihren 16 Jahren Amtszeit nie so recht darum gekümmert. Für die Galerie darf sich ein sogenannter Ostbeauftragter zusehends erfolglos daran abarbeiten. Mit deutlich mehr Tiefe (aber weniger Einfluss) suchen Literaten Antworten auf diese und ähnliche Fragen. Jüngst der Leipziger Literaturprofessor Dirk Oschmann, der 2011, 20 Jahre nach der Einheit, als erster Ostdeutscher auf einen regulären Lehrstuhl für neuere deutsche Literaturwissenschaften berufen wurde. Mit seinem Buch „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ provoziert er bewusst überspitzt und legt den Finger in die Wunde, macht so eine andere Annäherung auf die Beantwortung der Fragen möglich. Die teils heftigen Reaktionen von Politik und Medien machen dabei einmal mehr deutlich, dass die westliche Gesellschaft bis jetzt zu keinem Zeitpunkt gewillt war, sich im Einigungsprozess auch nur um ein Jota zu verändern und eigene Ansichten auch nur infrage zu stellen. Selbst um Nichtigkeiten wie die TV-Präsenz des gerade mit dem Grimme-Preis ausgezeichnete Ost-Sandmännchens gab es lange Diskussionen. Der „Grüne Pfeil“ ist bis heute für viele rätselhaft – und die Wiederauferstehung der verteufelten Polikliniken als nunmehrige Ärztezentren ist sinnhaft, aber nur dem ökonomischen Druck zuzuschreiben.

Nach Ossmann sind die politischen, sozialen, wirtschaftlichen Probleme darauf zurückzuführen, dass der Osten permanent abgewertet und benachteiligt wird: „1990 brauchte es einen Elitenwechsel. Aber der Wechsel hat sich zementiert. Die aus dem Westen stammenden Systemeliten rekrutieren sich nachweislich nur aus sich selbst“. Durch die Besetzung der wichtigen Schaltstellen mit Wessis wurde der Osten systematisch einer gesellschaftlichen Teilhabe beraubt, einen eigenen öffentlichen Diskurs zu entwickeln. Die ZEIT stellt diesbezüglich fest: Der Westen führt den Diskurs „zynisch, herablassend, selbstgefällig, ahistorisch und selbstgerecht“. Auch der komplett westdeutsch ausgerichtet Mediendiskurs sei „extrem vorurteilsbeladen, herablassend und tendenziös. Der Ostdeutsche fühlt sich, als sei er das Allerletzte.“

Mit fatalen Folgen: Mit dem über Jahre zurückgewonnenem einstigen (Wende-) Selbstbewusstsein ist eine deutliche Abkehr von den für richtig angesehenen (West-)Werten erkennbar. Immer mehr Ossis finden sich aus purem Frust in lautstarken Protestgruppen überwiegend rechter Couleur wieder und befeuern den Ruf der AfD, eine Ostpartei zu sein. Mithin, deren Führungsriege ist bis auf Tino Chrupalla ausschließlich aus dem Westen und bedient sich geschickt des ostdeutschen Unmutes. In der Politik artikulieren Ministerpräsidenten wie Michael Kretschmer (Sachsen) oder Reiner Haseloff (Sachsen-Anhalt) immer deutlicher auch gegen eigene Parteiorder ostdeutsche Positionen.

„Ja, es stimmt: Es gehört zu westdeutschen Selbstverständlichkeiten, sich selbst zur Norm zu setzen und alles Ostdeutsche als Abweichung wahrzunehmen“, schreibt Steffen Richter im „Tagesspiegel“. Deshalb bedurfte es auch keines großen politischen Planes, der zu den inzwischen hinlänglich bekannten West-Ost-Verwerfungen führte. Richter weiter: „Ja, es ist richtig: Spitzenpositionen in Wissenschaft, Verwaltung, Jurisprudenz oder Wirtschaft werden zu lächerlichen Anteilen von Ostdeutschen besetzt, im Schnitt liegt der Verdienst im Osten um 22 Prozent, unter dem im Westen, vererbt wird im Osten weniger als im Westen, ostdeutsche Immobilien gehören zu großen Teilen Westdeutschen.“

Schauen wir uns die Fakten genauer an. Von 3.639 Führungspositionen in oberen Bundesbehörden sind 13,5 Prozent Ossis, ohne Berlin sogar nur 7,4 %. In der Justiz sind lediglich 5,1% der Richter gebürtige Ossis. Die von der Föderalismuskommission von Bundestag und Bundesrat 1992 getroffene Entscheidung, Bundesbehörden und Forschungseinrichtungen vorrangig im Osten anzusiedeln, ist nie umgesetzt worden. Der Lohnunterschied bei Vollzeitbeschäftigten liegt bei 19,9 % bzw. 839 Euro brutto/Monat, der durchschnittliche Monatslohn West beträgt 4.218 Euro, Ost 3.379 Euro (brutto). Anders gesagt: 20 Prozent des Jahres – bis zum 14. März – arbeiten die Ossis rein rechnerisch unbezahlt. Das ist ungehörig und nicht mit geringer Produktivität zu begründen.

Großkonzerne führen ihre Steuern an den Stammsitzen im Westen ab, der Osten wird als verlängerte Werkbank wahrgenommen. Im Westen wird bereits an die dritte Generation vererbt, die nach einer Studie des Deutschen Instituts für Altersvorsorge (DIA) die vermögendste Erbengeneration aller Zeiten ist. In Baden-Württemberg und Bayern werden so pro Kopf rund 175 000 Euro vererbt. Im Osten hingegen entwickelt sich gerade Generation Nr. 1, in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg werden im Schnitt 23.000 vererbt. In den alten Bundesländern gehören in mehr als 50 Prozent der Fälle Immobilien zum Nachlass, im Osten, seit 1949 im Prinzip ein Land ohne Privateigentum, nur in jedem dritten Erbfall. Zwar ist der Anteil der Immobilieneigentümer seit der Wende in Ostdeutschland trotz niedriger Löhne von nur rund 25 Prozent auf etwa 40 Prozent angestiegen. Verglichen mit Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz oder Schleswig-Holstein ist das aber immer noch wenig. Dort liegt die Quote bei fast 60 Prozent. Östliche Landesregierungen tun zudem noch das Ihrige dazu, den Eigentumserwerb zu erschweren. Die Grunderwerbssteuer in Thüringen und Brandenburg sind mit 6,5 bzw. sechs Prozent in Mecklenburg-Vorpommern Spitzenwerte in Deutschland! Das wohlhabende Bayern verlangt gerade drei, Baden-Württemberg und Niedersachsen jeweils fünf Prozent. Wen wundert da, dass bei der Bildung von Wohneigentum das Niedriglohnland Mecklenburg-Vorpommern auf dem letzten Platz liegt. Begehrte Grundstücke und Häuser entlang der Küste gehen so fast durchweg an betuchte Käufer aus Hamburg und Berlin.

Das alles verheißt keine rosigen Aussichten. Westlöhne werden nicht in Windeseile kommen. Auch große Erbschaften werden erst in Jahrzehnten (wenn überhaupt) fällig. Stichwort Elitenbildung: Nur ganz wenige Ostdeutsche können ihren Kindern schon Eliteinternate wie in Salem (Baden-Württemberg) mit 50 000 Euro im Jahr oder den Besuch von Elite-Universitäten etwa in den USA finanzieren – Orte, wo die Netzwerke der Zukunft geknüpft werden. Die Politik lässt auch nicht im Ansatz erkennen, über steuerliche Regelungen, ein Grunderbe für die jüngere Generation oder wirksame Sonderfonds den originär Ostdeutschen ernsthaft ein Aufschließen zu ermöglichen. Das alles schafft Abkehr von der Demokratie, Frust und Wut. Die zunehmende staatliche Gängelung malt längst einen „Sozialismus mit Westgeld“ (Thüringens CDU-Chef Mario Voigt) an die Wand, auf den die Bürger nun wirklich keinen Bock haben. Sabine Rennefanz stellt im Tagesspiegel resignierend fest: „Viele Ostdeutsche dachten nach 1989, wenn sie viel leisten, fleißig sind, wird das belohnt. Mit Wohlstand, Zugang zu Konsum und gesellschaftlicher Anerkennung. Dann kamen Massenarbeitslosigkeit, Hyper-Globalisierung und die Erkenntnis, dass in der Bundesrepublik weniger Leistung, sondern vor allem die richtigen Netzwerke und Herkunft zählen.“ Wie einst in der hinweggefegten DDR: Da musste man zur Arbeiterklasse (sprich: Parteielite) gehören und über Seilschaften verfügen…

Den Westen „überholen, ohne einzuholen“, dieses von Walter Ulbricht proklamierte Ziel war schon im real dahinsiechenden DDR-Sozialismus eine fixe Idee. Die große Mehrheit der Ossis muss jetzt tapfer sein und lernen: Selbst das Einholen wird in der Jetztzeit nicht Wirklichkeit werden – abgesehen von Einzelfällen erfolgreicher Erfinder (so hießen früher Start-ups), Unternehmer, Künstler oder Wissenschaftler. Diverse Studien belegen, dass das Einholen aufgrund der bestehenden Eigentumssituation rein mathematisch nicht möglich ist. Der technologisch teilweise hochmoderne deutsche Osten wird in den Lebensverhältnissen auf lange Zeit weiter abgehängt dem Westen hinterherhinken. Über 40 Jahre Verteufelung des Privateigentums im Osten unseres Landes sind eine zu große Hypothek mit ganz langer Laufzeit. Daran aber ist der Westen nun wirklich nicht schuld.