Ist Deutschlands Abwärtsfahrt zu stoppen?

Nahezu im Tagestakt erreichen uns Nachrichten, die den Niedergang Deutschlands signalisieren. Sie betreffen fast alle Lebensbereiche. Das verunsichert und bereitet der Welt Angst und Politikverdrossenheit. Ist die offensichtliche Abwärtsfahrt aufzuhalten? Ist die zerstrittene Ampel-Regierung dazu in der Lage?

Foto von Christian Lue auf Unsplash

Der überwiegende Teil der Menschen in unserem Land hat ein recht gutes Bauchgefühl, wenn es um den Zustand des Landes geht. Seit längerem sind sie frei nach Shakespeare gewiss: Es ist etwas faul im Staate Deutschland. Es scheint nur eine Bewegungsrichtung zu geben – abwärts! Deutschland im Niedergang.

In relevanten Rankings rutscht Deutschland mit konstanter Regelmäßigkeit ins Mittelmaß oder noch weiter ab. Beim Wirtschaftswachstum warten laut OECD Indien und China mit 5,4 Prozent auf, Deutschland null! 2019 galt unser Land nach Südkorea noch als innovativstes Land, inzwischen nur noch Rang vier. Als attraktiver Industriestandort findet sich Deutschland auf dem letzten Platz der 20 Industrienationen ein. Die Autoindustrie, Deutschlands Wirtschaftstreiber, hat die Hinwendung zur E-Mobilität verschlafen und verliert vor allem gegenüber China mehr und mehr an Boden. VW als größter Autohersteller der Welt ist auf Platz zwei hinter Toyota abgerutscht.

Wenig Hoffnung verbreiten andere, für ein exportorientiertes Land wichtige Zahlen. Jedes vierte Mittelstandunternehmen denkt ans Aufhören. Fachkräftemangel, hohe Energiepreise, mangelnde Digitalisierung, schwerfällige Bürokratie, hohe Arbeitskosten bewegen Firmen, im Ausland zu investieren. 2022 wurden so 142 Milliarden Dollar ins Ausland transferiert, lediglich elf Milliarden kamen ins Land: ein Minus von 131,8 Milliarden Dollar – so viel wie nie! Die Bedingungen für Investoren sind einfach schlecht: Regulierungslast, Bürokratie, hohe Unternehmenssteuern. 2008 waren die noch die zweitniedrigsten unter den G7-Staaten, momentan die höchsten. Das macht Standorte in Deutschland nicht attraktiv!

Die Zahl der Unternehmensinsolvenzen steigt. Deutschland baut viel weniger Wohnungen als im Nachkriegsschnitt. Brücken sind marode, die Bahn unpünktlich. Die Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen. Gute Laune bei den Steuerzahlern in der viertgrößten Wirtschaftsmacht der Welt macht das nicht. Eher Sorgen. Zumal immer mehr so dringend gesuchte Naturwissenschaftler ihre Zukunft im Ausland sehen: bessere Entwicklungsmöglichkeiten, besserer Verdienst, weniger Steuern, Forschungsfreundlichkeit!

Ein desaströses Bild liefert auch das Bildungswesen im Land der Dichter, Denker und Ingenieure. Beschämend der gefühlt seit Jahrzehnten bestehende Lehrermangel! Seit der ersten PISA-Studie 2001 und dem folgenden Schock wird laut lamentiert, Aktionismus versprüht. Spürbar besser ist es eher nicht geworden. Bei der damaligen Studie landeten deutsche Schüler auf den Rängen 22 (Lesen) und 21 (Mathematik, Naturwissenschaften). Die aktuellste Studie mit den Spitzenreitern China, Singapur, Macao und Hongkong weist Deutschland auf den Plätzen 21 (Lesen), 20 (Mathematik) und 16 (Naturwissenschaften) aus. In der aktuellen IGLU-Studie erreicht ein Viertel der getesteten Grundschüler nicht den Mindeststandard beim Lesen. Die Ausstattung und Nutzung digitaler Medien in Grundschulen sind im internationalen Vergleich unterdurchschnittlich, die Gebäude bröckeln. Die Folge: Ausbildungsbetriebe beklagen die mangelnden Grundkenntnisse der künftigen Lehrlinge, die einmal Träger der Wirtschaft sein sollen.

Das der Niedergang unseres Landes systemisch ist, belegt auch ein Blick in einen Nebenbereich. Auch im Sport waren wir mal viel besser. 1992 bei Olympia in Barcelona wurde in der Nationenwertung mit 88 Medaillen Platz drei belegt. 2020 in Tokio bei deutlich erhöhten finanziellen Aufwendungen wurden 33 Medaillen gewonnen – Rang neun. Unsere Lieblinge, der einstige Fußballweltmeister Deutschland, ist auf Platz 15 der FIFA-Rangliste zu finden, hinter den USA, der Schweiz, Marokko und Mexiko auf den Plätzen zehn bis 14.

Besserung scheint kaum in Sicht. Die Bundesjugendspiele für Grundschüler (und bald auch an weiterführenden Schulen?) sollen abgeschafft werden, weil Leistungsanforderungen an Kinder nicht mehr zeitgemäß seien. Nach der Devise mehr Life, weniger Work!

Das alles registrieren die Menschen. Sie wissen, dass der momentan noch vorhandene Wohlstand durch Mühen, Anstrengen, kurz Work und nicht durch Life geschaffen wurde. Sie ahnen (und sehen es beim Blick ins Portemonnaie), dass er dahinschmilzt. Corona-Krise, Inflation, Russlands barbarischer Krieg gegen die Ukraine, Flüchtlingsströme, Globalisierung. Computer schicken sich an, schlauer als wir zu werden und Jobs zu übernehmen. Das produziert Gereiztheit, Unsicherheit, Angst – und Wut. Bei alledem fehlen jegliche Antworten und Zukunftsbilder aus der Politik in einer sich ändernden Welt. Das Tempo geben längst die USA und Asien vor. Europa hat an Boden verloren und muss sich seine Rolle neu suchen. Wohin geht Deutschland?

Und welches Bild liefert die Regierung, von der klare Antworten erwartet werden? Die Ampel ergeht sich in Streitereien und frustriert die Bürger ob fehlender Lösungsfähigkeiten. Die Parteien kreisen um sich selbst, um Posten, ihre ideologischen Fundamente und verspielen damit das Vertrauen in die Politik. Beleg dafür ist der Mitgliederschwund der Volksparteien, die so nicht mehr genannt werden dürften. Die einst stolze SPD verlor von 1990 bis 2021 gut 650.000 Mitglieder auf nun 293.000, die CDU im gleichen Zeitraum 405.000, ist jetzt bei 380.000 angekommen. Ausdruck von Entfremdung und Politikverdrossenheit, auch bei demokratisch gesonnenen und engagierten Menschen. Auf dem flachen Land gibt es längst für alles Mögliche Wählerverbindungen für oder gegen etwas –Ortsgruppen etablierter Parteien muss man mit der Lupe suchen. Wie sollen sie da gewählt werden?

Die großen Kulturen der Weltgeschichte, ob Inkas, Griechen, Ägypter, Römer sind nicht an Kriegen zugrunde gegangen. Nach einer von der NASA mitfinanzierte Studie droht einer Gesellschaft der Kollaps, wenn sie die vorhandenen natürlichen Ressourcen übermäßig plündert und zugleich in eine reiche Elite und arme Massen gespalten ist. Denn die Eliten an den Hebeln der Macht sind als Letzte von den Folgen betroffen und würden es deshalb versäumen, rechtzeitig umzusteuern. Stattdessen ergehen sie sich in Eitelkeiten und Nebensächlichkeiten. Das nennt man Dekadenz.

Steuert Deutschland sehenden Auges in den Untergang? Ist die Talfahrt noch zu stoppen?

Alle führenden Wirtschaftsinstitute sind sich einig: Noch hat unser Land das Potenzial, den Trend zu stoppen und umzudrehen. Doch dafür bedarf es auf den entscheidenden Gebieten eines Doppel-Wumms.

Auch wenn unser Land nur drei Prozent des weltweiten CO2-Ausstoßes verursacht, steht der Einsatz gegen den Klimawandel an oberster Stelle. Das ist unsere Verpflichtung der Welt gegenüber. Er muss konsequent angegangen und mit seinen notwendigen Schritten klar erklärt werden. Es geht aber nur im Einklang mit der Hinwendung zu den zentralen A-Themen Digitalisierung, Infrastruktur mit Energiewende und Ausbau der Netze, Entbürokratisierung und Bildung, sofort und mit aller Finanzkraft! Ich würde dafür auch Schulden aufnehmen.

Die Absicht, viele Lebensbereiche der Menschen im Land nach dem eigenen Weltbild zu gestalten, sollte hingegen schnellstens zu den Akten gelegt werden. Vorschriften wie sie schreiben, sprechen, essen sollen, haben die Leute satt. Ebenso die von großstädtischen Eliten ins Zentrum der Politik und medialer Darstellung gerückten Deutungskonflikte zu Identitätsfragen wie kultureller Aneignung, freie Geschlechterwahl beim Standesamt und das Behandeln von Transsexuellen. Ja, alles beachtenswert. Ja, jeder nach seiner Façon. Aber der Pudel muss wieder vom Kopf auf die Beine gestellt werden. Minderheiten müssen allen Schutz, Hilfe und gleiche Rechte erhalten. Doch sie dürfen damit nicht der großen Mehrheit wie bei den Bundesjugendspielen, die den Vergleich, den Wettbewerb lieben, nicht den Spaß am Wettkampf oder anderen die Freude an einem Schnitzel und anderen wieder an einer Rasterfrisur nehmen.

Es gab mal Zeiten in unserem Land, da sprach ein Bundespräsident ein (notwendiges) Ruck-Machtwort. Es wäre wünschenswert, wenn der jetzige der Streithammel-Ampel-Regierung schnellstens kräftig den Kopf wäscht und ihr mitteilt, wozu sie gewählt ist: Für das Wohl des Volkes zu sorgen – des ganzen! Nicht nur für einen kleinen Teil und schon gar nicht für das eigene (oder ihrer entsprechenden Partei).

Ein Buch als Mahnmal

Es gibt Bücher, die verkörpern Leben und Tod, sie sind Momentaufnahme und Schicksal – alles in einem.

Ich besitze so ein Buch: das originale Berliner Telefonbuch von 1941. Gerade gab das Statistische Bundesamt bekannt, dass sich Berlin in der Bevölkerungszahl der von 1942 annähere (4,5 Millionen Einwohner), also fast dem Jahr, dessen Telefonbuch ich besitze. Im letzten „amtlichen Telefonbuch der Reichshauptstadt“, so der damalige Name, sind 315.000 Anschlüsse registriert. Max Planck steht in diesem Telefonbuch, Ferdinand Sauerbruch, Lale Andersen, Hans Albers, Käthe Kollwitz, Gottfried Benn, Erich Kästner, Jochen Klepper. Nazis wie Wilhelm Keitel, Erich Raeder, Albert Speer und Roland Freisler, große Maler, Sportler, Trainer wie Sepp Herberger, der spätere Bundespräsident Theodor Heuss.

Was aus den Trägern dieser berühmten oder berüchtigten Namen wurde, wissen wir. Die einen brachten dem Menschen Kunst, Kultur, Fortschritt, ein bisschen Glück in schwerer Zeit. Die anderen brachten Leid und Tod, Mord und Verfolgung. Sie alle teilen dieses eine Telefonbuch. Das Schicksal der anderen Telefonbesitzer kennen meist nur deren Angehörige.

Meine Großmutter und ihre Familie stehen auch in diesem Dokument: Fritz Dittmann, Kaufmann, Siemensstraße 52, Berlin Lankwitz. Telefon: 732783. Diese Nummer hatte meine Großmutter bis zu ihrem Tod in den 70er Jahren. Das deutsche Postwesen und die ausgegebenen Telefonnummern haben Diktatur, Zerstörung, Wiederaufbau, Wirtschaftswunder mühelos überlebt – immer mit der gleichen sechsstelligen Telefonnummer.

Ein altes Telefonbuch ist wie der Roman einer Stadt. Das Berliner Telefonbuch von 1941 aber ist mehr: Es ist wie ein Klartext der Geschichte. Es ist ein Mahnmal für alle Zeiten. Denn fast versteckt – von Historikern wie Hartmut Jäckel zum Leben erweckt – befinden sich rund 5.000 Anschlüsse jüdischer Mitbürger. Viele Rechtsanwälte und Ärzte, die aber ihre Berufsbezeichnung nicht mehr führen durften. Sie mussten als Zusatz zu ihren Familiennamen die Worte „Israel“ oder „Sarah“ tragen.

Das Holocaust-Mahnmal im Herzen Berlins. Eine Erinnerung an die ermordeten Juden in Europa. Auch im Berliner Telefonbuch von 1941 finden sich Spuren dieses Schicksals.

Das Holocaust-Mahnmal im Herzen Berlins. Eine Erinnerung an die ermordeten Juden in Europa. Auch im Berliner Telefonbuch von 1941 finden sich Spuren dieses Schicksals.

Ich nenne einige Namen aus dem Telefonbuch, stellvertretend für viele: Dr. med. Leopold „Israel“ Arnheim, Brunnenstraße 194. Zahnarzt Dr. med. Martin Gabrielski „Israel“ aus der Lietzenburger Straße 51. Dr. med. Ella „Sara“ Lissner, Augenärztin Potsdamer Straße 173, im Telefonbuch „Augenbehandlerin“. Zahnärztin Paula „Sara“ Jacobsohn, Kantstraße 141. Die Anführungszeichen stammen von mir. Möge es mir der Leser verzeihen.

Was nicht im Telefonbuch steht, haben Historiker in akribischer Jahrzehntelanger Recherchearbeit herausgefunden und zusammengetragen: Dr. Arnheim wurde  nur ein Jahr später, am 29.12.1942 im KZ Theresienstadt ermordet. Zahnarzt Dr. Gabrielski wurde am 9.12.1942 in Auschwitz ermordet. Dr. Ella Lissner starb am 22.10. 1942 in Riga. Auch Paula Jacobsohn wurde in Riga ermordet. Ihr Todestag: 29.10.1942. Das Berliner Telefonbuch von 1941 – ein einmaliges Dokument, obwohl es nur eine Liste von Namen und Telefonnummern enthält.

Es ist ein unvergängliches Mahnmal – es gemahnt uns nie zu vergessen.

Louis Hagen ist Senior Advisor im Berliner Büro der WMP EuroCom AG. Jeden Samstag erscheint seine „Kolumne fürs Leben“ in BILD.

Kommunikationsberatung: Mehr als nur Worte

Ein Satz kann Milliarden kosten. Oder einsparen. Prominente Beispiele sind Elon Musk von Tesla oder Rolf Breuer von der Deutschen Bank, die mit unternehmensrelevanten Informationen via Twitter bzw. seinerzeit Bloomberg TV erheblichen Börsenwert vernichteten. Mario Draghi, Ex-Präsident der Europäischen Zentralbank, wiederum gelang es in der Eurokrise 2012 mit der Formulierung «Whatever it takes», die Finanzmärkte zu beruhigen und einen Crash zu verhindern.

Ein Plädoyer von Susanne Horstmann

Die Sichtbarkeit von Unternehmenschefs macht CEO-Kommunikation nicht selten zum Drahtseilakt, insbesondere in turbulenten Zeiten und bei börsennotierten Unternehmen. Das Internet hat ein fantastisches Gedächtnis, Worte „versenden“ sich nicht, wie es früher hieß, sondern sind für die Ewigkeit. In den PR-Abteilungen der Unternehmen und in den Kommunikationsagenturen sitzen deshalb meist erfahrene Profis.

Wesentlich für den Erfolg ist aber vor allem der kontinuierliche Kommunikationsfluss in „normalen“ Zeiten. Er sorgt für das nötige Grundrauschen, schafft Dialog und Vertrauen. Erst in Krisenzeiten an die Öffentlichkeit zu treten, erweist sich meist als nachteilig.

Warum einsteigen?

Talente haben heute oft eine große Auswahl an Jobs und viele gute Angebote. Warum sollten Absolventen, Praktikanten oder Quereinsteiger überhaupt in die Kommunikationsberatung gehen?

Die Lernkurve ist, wie in allen Unternehmensberatungen, steil, zumal in Agenturen:

Man bekommt in kurzer Zeit Einblicke in verschiedene Branchen, Unternehmenstypen und -kulturen. Selbst bei ähnlicher Problemstellung zeigt sich: Unternehmen sind so vielfältig wie die Flora und Fauna des Regenwaldes. Es ist immer wieder interessant, die geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze und Gebräuche einer Organisation kennenzulernen und damit zu arbeiten.

Man beschäftigt sich mit den Aufgaben, mit denen sich die Top-Führungskräfte einer Organisation befassen. Dazu muss man versuchen, das Geschäftsmodell und das Unternehmen so weit wie möglich von der Basis aus zu durchdringen (wie etwa in Produktentwicklung, Fertigung, Lager usw.: Gibt es die Möglichkeit einer Werksbesichtigung? Dann nutze sie!). Gleichzeitig ist es wichtig, die Helikopterperspektive einnehmen zu können, um mit dem Management auf Augenhöhe zu sprechen. Die Verantwortlichen auf Kundenseite, insbesondere bei inhabergeführten Unternehmen, kennen ihr Unternehmen besser als jeder Berater es in der relativ kurzen Zeit eines Mandates kennenlernen kann. Der Mehrwert des Beraters besteht vor allem darin, eine Außenperspektive einzubringen sowie die branchen- und fachspezifischen Erfahrungen eines individuell für das Projekt zusammengestellten Expertenteams.

Man trifft auf interessante Persönlichkeiten im Top-Management, denen – je nach Unternehmensgröße – selbst die Teams des jeweiligen Kunden oft nur selten begegnen: im Intranet, auf Messen oder bei Weihnachtsfeiern. Auch hier gilt: Kein Mensch, kein Unternehmen, keine Situation ist wie die andere, Einfühlungsvermögen, Integrität und Standhaftigkeit sind gefragt. Sie helfen, manchmal unangenehme Wahrheiten zu vermitteln. Der Ton macht die Musik. Echtes Interesse, Freundlichkeit und Gelassenheit retten nicht selten auch heikle Situationen – und die entsprechende Grundhaltung lässt sich tatsächlich üben.

Das Themenspektrum ist breit und vielfältig:

Der PR-Verband DPRG hat zwölf große Themenfelder definiert, darunter Media-, International- und Investor Relations, Public Affairs, Community und Eco Relations sowie die gute alte Produkt-PR – um nur einige zu nennen. Bemerkenswert ist, dass die interne Kommunikation in vielen, vor allem schnell wachsenden Unternehmen (z.B. Start-ups, Mittelständler) auch heute noch oft vernachlässigt wird. Vorstandsaufzüge direkt in die Chefetage gehören zwar fast überall der Vergangenheit an. Aber wer nutzt einen „Kummerkasten“ oder gibt ehrliches Feedback bei Mitarbeiterbefragungen, die kaum Anonymität garantieren können? Welcher „normale“ Mitarbeiter nutzt die „open door policy“ des neuen Vorstandsmitglieds, um sie oder ihn am oft gut bewachten Vorzimmer vorbei direkt zu besuchen (vorausgesetzt, der elektronische Ausweis erlaubt überhaupt Zugang zu diesem Flur)?

Die Digitalisierung bereichert das ohnehin weite Feld der Kommunikation um neue Instrumente (z.B. KI-basierte Tools zur Texterstellung oder Online-Module zur Mitarbeiter- oder Bürgerbeteiligung), Kanäle (soziale Netzwerke, Tiktok) und Berufsbilder („Prompter“). Hier können sich digital affine Berufseinsteiger und Nachwuchskräfte schnell positionieren.

Content zu generieren macht Kunden und Berater zu Herausgebern und Produzenten: In vielen Fällen sind journalistische Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten gefragt, vom Drehbuch über die Podcast- und Videoproduktion bis hin zur Distribution des fertigen Produkts über verschiedene Kanäle. So finden auch Technikbegeisterte und angehende Redakteure in der PR ein interessantes Betätigungsfeld und können sich zu begehrten Experten entwickeln.

Wirtschaft, Politik und gesellschaftliche Themen ergänzen sich:

In einem wirtschaftlichen Umfeld, in dem der Staat immer mehr Einfluss nimmt, werden auch gesellschafts- und sogar geopolitische Aspekte immer wichtiger. Politisch Interessierte ohne Scheuklappen, gerne mit wirtschaftspolitischem Verständnis, sind in der Kommunikationsberatung willkommen. Und wie überall gilt: Wer mit offenen Sinnen und Herzen durch die Welt geht, kann hier das Menschliche und Allzumenschliche studieren. Jede Organisation ist ein lebendiger Organismus. Und letztlich ist jedes Geschäft ein „People Business“.

Was erwartet Interessierte noch?

Neben dem effektiven „learning on the job“ bieten Unternehmen und Agenturen heute in der Regel eine marktgerechte Vergütung, Weiterbildungsmaßnahmen und flexible Arbeitszeitmodelle, oft mit der Möglichkeit, zumindest teilweise „remote“ zu arbeiten. „Nine to five“ im Büro ist zwar nicht immer möglich, aber die Arbeitgeber sind heute durchaus auf Ausgleich bedacht.

Schön ist: Flache Hierarchien garantieren Sichtbarkeit und Wertschätzung, niemand bleibt „unsichtbar“. Gute Ideen werden in der Regel schnell aufgegriffen und gegebenenfalls als Vorschlag an den Kunden weitergegeben.

Wer in kurzer Zeit viel lernen will, Neugier, Dienstleistungsbereitschaft und etwas Ausdauer mitbringt, findet in der Kommunikation ein interessantes Arbeitsfeld, das viele Aufgaben und Karrieremöglichkeiten bietet. Wenn man seine Sache gut macht, bleibt das auch den Kunden nicht verborgen, und so mancher wechselt zu dem Unternehmen, für das er eine Zeit lang als Externer gearbeitet hat. Aber auch in der Beratung selbst ist eine Karriere möglich: Wer den Werkzeugkasten der Kommunikation zu nutzen weiß, dem stehen viele Türen offen. Denn: „Man kann nicht nicht kommunizieren“. Oder: „Wer nicht kommuniziert, der wird kommuniziert“. Besser also, man macht es gut.

Susanne Horstmann ist Managing Director des Münchener Büros der WMP EuroCom AG.

Digitalisierung im Gesundheitswesen – ein hoffnungsloser Fall?

Im März hat Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach die Digitalisierungsstrategie für das Gesundheitswesen vorgestellt. Demnach sollen bis 2025 unter anderem 80 Prozent der GKV-Versicherten eine elektronische Patientenakte nutzen und bis 2026 80 Prozent der Kommunikationsvorgänge im Gesundheits- und Pflegewesen papierlos erfolgen. Dazu beinhaltet die Strategie zwei Gesetzesvorhaben, die zum einen ohnehin schon mehr als überfällig sind und zum anderen bereits seit Langem angekündigt waren. Ein ganz großer Wurf? Wohl kaum. Warum tut sich die Gesundheitspolitik so schwer damit, die Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen voranzutreiben? 

Klar ist, ein Erkenntnisdefizit haben wir nicht – ein Umsetzungsdefizit aber schon. Die Ursachen mögen vielschichtig sein, aber auf der Hand liegt auch, dass 18 verschiedene Datenschutzbeauftragte in Bund und Ländern nicht dazu beitragen, den Prozess zu beschleunigen. 

Datensicherheit und -schutz sind wichtig, gerade bei so sensiblen Daten wie denen im Gesundheitssystem. Aber es kann auch keine Lösung sein, Richtlinien so auszulegen, dass Datensicherheit über dem Wohle der Patientinnen und Patienten steht. Vor allem dann nicht, wenn wir uns die Herausforderungen anschauen, vor denen wir stehen: Der demografische Wandel führt schon jetzt zu einem eklatanten Fachkräftemangel im Gesundheitswesen und dieser Trend wird sich weiter fortsetzen. Hinzu kommen steigende Kosten durch eben diesen, durch den Technologiefortschritt und durch zunehmende Gesundheitslasten aufgrund unseres Lebensstils. Diabetes, Atemwegs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind auf dem Vormarsch. Noch profitieren wir von einer Gesundheitsversorgung auf hohem Niveau, das aber mit den bestehenden Konzepten nicht gehalten werden kann. Wir brauchen digitale Lösungen. Es kann nicht sein, dass wichtige Gesundheitsinformationen nicht schon längst automatisch zwischen Ärztinnen und Ärzten über eine elektronische Patientenakte (ePA) ausgetauscht werden können. Dass ein Medikationsplan bei Einlieferung in ein Krankenhaus nicht automatisch ausgelesen werden kann. Dass im 21. Jahrhundert Gesundheitsämter auf die Datenübermittlung via Faxgerät angewiesen sind. 

Andere Länder wie Estland oder Israel zeigen schon längst, dass Datenschutz und Patientenwohl miteinander vereinbar sind. Wenn wir hier nicht schnell nachziehen – und mit schnell muss sofort gemeint sein, – werden wir die gerade aufgeführten Herausforderungen für unser System nicht stemmen können. Dabei hilft erst recht keine medial geführte Diskussion über die Zukunft des Chefs der ‚Nationalen Agentur für Digitale Medizin – gematik‘. Wir brauchen jetzt konkrete Gesetzentwürfe vom Gesundheitsminister, die den Willen zeigen, Deutschlands Gesundheitssystem endlich im 21. Jahrhundert ankommen zu lassen. 

Kinder, warum seid ihr nur so dick?

Von Klaus Kimmel

Es ist eine schöne Tradition, dass jährlich in diesen Wochen in den Regionalzeitungen Gruppenfotos von Mädchen und Jungen abgebildet werden, die die Konfirmation oder Jugendweihe erhalten. Bleibende Erinnerung an den Schritt in die Erwachsenenwelt und zugleich Signal an uns: Seht her, wir kommen.

Während meiner Urlaubstage an der Ostsee sah ich eine Woche lang täglich solche Fotos. Festlich gekleidete 14-jährige. Meist freundlich, frohgemut lächelnd. Einige (mehrheitlich Jungs) eher skeptisch blickend. Die Mädchen mit Hang zum langen Kleid. Der ein oder andere Junge fremdelte offensichtlich mit seinem ersten Anzug. Ja, das sind diejenigen, die die Zukunft gestalten werden. Viel anders haben wir in diesem Moment auch nicht ausgesehen – von modischen Unterschieden einmal abgesehen.

Was mir beim genaueren Betrachten der Bilder auffiel: Viele der künftigen Erwachsenen sind übergewichtig. Mehrfach fast 30 bis 40 Prozent der Abgebildeten! Künftige Herz-Kreislauf-, Diabetes- und Krebs-Patienten, die das System der Kassen erheblich belasten werden. Sie werden die Statistik der frühen Sterblichkeit der Deutschen nicht verbessern. Gerade schreckte auf, dass wir diesbezüglich im Ranking von 16 europäischen Ländern auf Rang 14 liegen – bei den mit höchsten Gesundheitsausgaben. Dafür rangieren wir im weltweiten OECD-Ranking der Länder mit dem meisten Übergewicht (60 Prozent der Bevölkerung) auf Platz zwölf. Spitze ist da Mexiko (75,2 Prozent), dieweil Japan mit 27,2 Prozent Übergewichtigen das Schlusslicht in dieser Statistik bildet, dafür in der Lebenserwartung aber unter den Top-Five ist.

Kinder, warum seid ihr nur so dick? Waren wir das in dem Alter auch? Auch wir waren da in der Pubertät. Auch unseren Lebensrhythmus bestimmt der Schulalltag, mit Samstagsunterricht bis 12:00 Uhr. Psyche und Hormone spielten da ebenfalls verrückt. Das Urteil der Freunde war uns wichtiger als jeder gutgemeinte Rat der Eltern. Alles wie heute.

Für die Beantwortung meiner Fragen kramte ich mein Klassenfoto von 1961 hervor. Von 38 Schülern waren sichtbar zwei übergewichtig. „Bärchen“ Michael und Bernd. Unsere Lebenswirklichkeit sah so aus: Wir waren immer in Bewegung. Zur Schule kamen wir zu Fuß oder per Fahrrad. Unsere Spielplätze waren die Straße, Parks und Hinterhöfe. Wir spielten Völkerball, Fußball und Fangen. Wir hatten regelmäßig Sportunterricht und nach einem 60-,100-m- oder 1000-m.Lauf kam kein Elternteil auf die Idee, bei den Lehrkräften eine Überbelastung ihres Kindes zu reklamieren. Viele waren zudem in einem Sportverein. Auf den Tisch kamen Kartoffeln, saisonales Gemüse aus dem Garten oder der Region. Wir tranken Limonade und Kuhmilch. Laktoseintoleranz war ein Fremdwort so wie auch vegetarisch oder vegan. Fleisch gabs einmal in der Woche, Süßigkeiten waren für Festtage oder eine gute Schulnote vorbehalten. Kurz: Wir ernährten uns wie damals üblich. Vernünftig, wie die Eltern sagten.

Regelmäßige Bewegung – selbst im Kindesalter keine Selbstverständlichkeit mehr…

Das Robert-Koch-Institut stellt fest, dass gegenwärtig 15 Prozent der um 14-jährigen übergewichtig sind, Tendenz stabil. Zu anderen Ergebnissen kommen die Krankenkassen. Die Kaufmännische Krankenkasse Hannover stellt fest, dass die Zahl, besonders in der Corona-Pandemie, bundesweit deutlich gestiegen ist. Zwischen 2011 und 2021 erhöhte sich die Zahl der von Adipositas (Fettleibigkeit) betroffenen 15- bis 18-jährigen um 42,5 Prozent. Bei den männlichen Jugendlichen gar um 54,5 Prozent. Die Barmer Krankenkasse registrierte bei über sie versicherten Jugendlichen in Mecklenburg-Vorpommern eine Steigerung von 49 Prozent. Bei Adipositas nimmt das Bundesland zugleich die negative Spitzenposition unter den Bundesländern ein. Das wohlhabende Bayern hingegen hat nur ein Drittel der Fälle und damit die wenigsten aufzuweisen.

Ärzte schlagen seit langem Alarm. Sie beklagen Bewegungsarmut und falsche Ernährung. Und fehlende Prävention. Jetzt darin investiertes Geld würde viele höhere Ausgaben im Alter ersparen.

Im Schnitt sitzen die Jugendlichen am Tag 110 Minuten vor dem Computer/Handy, viele aber auch über mehrere Stunden. Besonders Jungen. Hochkalorische Lebensmittel wie Softdrinks, Schokolade, Chips oder Fertiggerichte befördern das Übergewicht. Die Folgen: Mobbing, Diskriminierung, geschwächtes Selbstwertgefühl, Depressionen, die zu noch mehr Naschen führen. Ein Teufelskreis.

In diesen geraten vor allem – auch das belegen diverse Studien – Jugendliche aus sozial schwachen Elternhäusern und weniger gebildeten Schichten. Ihnen wird gesundes Leben zum einen seltener vorgelebt. Oder kann zum anderen nicht finanziert werden, weil frisches Gemüse und Obst teurer als Tiefkühl-Pizzen und Sportkurse oder Vereinsmitgliedschaften nicht erschwinglich sind. Auch eine Ursache, warum im finanziell schwächsten Bundesland Mecklenburg-Vorpommern besonders viele übergewichtig sind. Apelle für das Verbot von Werbung für ungesunde (Süß-)Waren sind löblich. Wichtiger wären aber mehr Sportlehrer, kostenfreie Sportangebote für bedürftige Jugendliche und das Einwirken der Eltern auf ein gesundes Leben. Denn die Ausprägung für eine gesunde Lebensweise in jungen Jahren trägt durch das gesamte Leben.

Dieser Tage hatten wir ein Klassentreffen. Abgesehen von ein, zwei altersbedingten Pfunden mehr, waren alle mit 76 Jahren in körperlich guter Verfassung. Sie spielen noch regelmäßig Tischtennis, sind aktive Taucher, gehen in die Berge Wandern oder fahren regelmäßig Rad – ohne E. Und unsere zwei Dicken? „Bärchen“ trägt medizinisch gut versorgt immer noch seine überflüssigen Pfunde mit sich herum. Bernd ist vor zwei Jahren verstorben – Herz-Kreislauf-Versagen.

Deutschland ist besser als ihr denkt

Für viele ausländische Studierende ist Deutschland ein Land der großen Möglichkeiten. Voraussetzung: Sie werden in die Gesellschaft integriert. Der Nigerianer Tomiwa Japhet Adeyemo (33) studiert seit einigen Monaten interkulturelle Germanistik und ist zurzeit Praktikant bei der Kommunikationsagentur WMP. Er ist Mitglied im Ring Christlich-Demokratischer Studenten. Hier erzählt er, wie er Deutschland erlebt – und was ihn besonders überrascht hat.

Von Tomiwa Japhet Adeyemo

Meine Freunde hatten mich gewarnt: „Du willst in Deutschland Germanistik studieren – du wirst dich noch wundern, was du da alles erlebst – es wird dir nicht gefallen.“

Mein Heimatland ist Nigeria, ich habe ein Germanistik-Stipendium bekommen und wollte unbedingt das Land kennenlernen, dessen Sprachen ich studieren durfte. Und nun diese Warnung meiner Freunde. Ich hatte gleichzeitig eine weitere Stipendienförderung an der University of Arizona. Ich hätte auch in die USA gehen können, um zu studieren.

Wovor warnten mich meine Freunde? Ein Wort fasst es zusammen: Fremdenfeindlichkeit. Sie nannten drei Beispiele: In Deutschland kannst du als Afrikaner nicht zum Friseur gehen. Sie nehmen dich nicht. Zweitens: Du kriegst nie eine Wohnung. Und drittens: ein eigenes Bankkonto – das kannst du vergessen. Ich ließ mich nicht abschrecken. Ich wollte es genau wissen. Und machte den Selbsttest: Wie ist Deutschland wirklich?

Am Hamburger Flughafen kam ich mit drei großen Taschen an und meiner Gitarre. Ich stand vor einer Treppe und wusste noch nicht, dass es überall Aufzüge gibt. Wie kriege ich bloß meine Koffer runter, fragte ich mich ängstlich. Alle Koffer auf einmal schaffe ich nicht. Wenn ich zweimal gehe, werden die zurückgelassenen Gepäckstücke vielleicht geklaut. Helfen wird dir hier keiner, dachte ich mir. Wir sind in Deutschland. Plötzlich aber stand eine Frau neben mir, Mitte Dreißig und fragte freundlich: „Kann ich Ihnen helfen?“ Ich war verblüfft und sagte:  Aber Ja! Gemeinsam schleppten wir die Koffer. Als wir unten waren, dachte ich: Womöglich ist diese unbekannte Frau typisch für Deutschland und nicht das, was ich bisher gehört hatte.

Auch in den nächsten Monaten zeigte sich: die Warnungen meiner Freunde waren überflüssig. Beim Friseur zum Beispiel bekam ich sofort einen Termin. Er frage ganz erstaunt: Ja, warum denn nicht? Am Bankschalter hatte ich in wenigen Minuten ein eigenes Konto. Und die Wohnung? Da hatte ich Glück. Ich lernte einen jungen Mann kennen, der Wohnungen an Deutsche und an Ausländer vermietet. Die Herkunft ist ihm egal. Weil ich Deutsch, Englisch und Französisch und ein bisschen Chinesisch kann, nahm er mich. So konnte ich ihm helfen, mit den anderen Mieter zu kommunizieren.

Inzwischen bin ich länger als ein Jahr in Deutschland. Ich bin Praktikant bei der Kommunikationsagentur WMP in Berlin geworden. Ich lerne viel. Nach ein paar Wochen darf ich sagen: Als afrikanischer Student in Deutschland habe ich fast nur positive Erfahrungen gemacht. Die Leute haben mich wirklich mit offenen Armen aufgenommen, so empfinde ich es jedenfalls. Ich habe als gläubiger Christ auch deutsche Freunde gefunden.

Ich möchte die Gelegenheit nutzen, mich für den warmherzigen Empfang und die freundliche Anteilnahme an meinem Leben zu bedanken. Ich berichte meinen Freunden in der Heimat, dass sie lauter Vorurteilen aufgesessen sind: In Deutschland ist jeder frei zu sagen und zu tun, was er will. Wer krank ist oder einen Unfall hat, findet schnell Hilfe. Wer Hunger hat, der wird versorgt. Wer etwas lernen will, findet immer eine Möglichkeit. Und wer arbeiten will, findet eine Arbeit. Das alles ist nicht selbstverständlich in meiner Heimat Nigeria, die ich sehr liebe. Hier in Deutschland habe ich zugleich gefunden, wovon viele meiner Landsleute träumen. Ich kann hier studieren und einen Abschluss machen. Und ich kann nach Hause zurückkehren, wann ich will.

Danke liebes Deutschland.

Kalter Krieg und rotes Telefon 

Der Westen hat den Kalten Krieg vor drei Jahrzehnten gewonnen. Trotzdem wird ein neuer Kalter Krieg heute wieder vielerorts beschworen. Doch die Analogie ist unhistorisch und folgenschwer. Denn die Welt ähnelt heute eher der Machtpolitik des 19. Jahrhunderts.

Ein Kommentar von Maxim Zöllner-Kojnov

Als Kennedy und Chruschtschow während der Kubakrise im Oktober 1962 verhandelten, da telefonierten sie nicht wirklich miteinander – sie telegrafierten. Kuriere brachten die neuen Nachrichten vom Telegrafenamt im Pentagon zum Weißen Haus und umgekehrt. Stunden vergingen. Der damalige Regierungskontakt glich einer Fernschachpartie über den Atlantik hinweg. Konfliktbewältigung im Instrumentenflug. 

Auch das spätere „heiße Telefon“, der sogenannte „rote Draht“ war nie eine echte Telefonleitung, die Kreml und Weißes Haus verband. Wahrscheinlich waren George H. Bush und Michail Gorbatschow die ersten Staatsoberhäupter der verfeindeten Großmächte, die miteinander am Telefon sprachen. Also just in den Stunden, als Gorbatschow im Begriff war, die Sowjetunion aufzulösen und den Kalten Krieg zu beenden. 

Das rote Telefon, das es nie gab und der Kalte Krieg, den ein Mythos umweht – waren Kennedy und Chruschtschow einst vorsichtiger, weil sie nur wussten, dass sie nie wirklich wissen können, was zur Stunde vor sich geht? Oder waren die Missverständnisse umso größer – wie im Mai 1967, als heftige Sonnenstürme und kein sowjetischer Angriff das ballistische Frühwarnsystem des Westens lahmlegten und nuklear bestückte US-Bomber schon gen Startfeld rollten? Ist unsere heutige Welt mit umfassender Aufklärung und unmittelbarer Kommunikation dagegen eine sicherere Welt? 

Zumindest dominiert inzwischen wieder die Logik des vergangenen Konflikts. Der Kalte Krieg, so heißt es in diesen Zeiten immer öfter, ist zurückgekehrt. Sei es der Krieg gegen Russland oder die zunehmende Konfrontation mit China. 

November 1963: Präsident Kennedy besichtigt das Saturn V Raketensystem (links neben ihm der Deutsche Wernher von Braun, Chef des NASA-Weltraumprojekts). Nur knapp entging die Welt in den 60er-Jahren einer atomaren Katastrophe.

Der Kalte Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion war von zivilisatorischem Ausmaß. Die Großmächte kontrollierten ihre jeweiligen Sphären der Welt. Wettbewerb herrschte überall: Ökonomie, Wissenschaft, Technologie und im Sport. Das eigene Gesellschaftsmodell wurde zum einzig akzeptablen Weltbild. Den Staaten der eigenen Sphäre wurde es übergestülpt. Der feindliche Entwurf wurde verteufelt und bekämpft. Das Überwechseln eines Staates in das gegnerische Lager galt es um jeden Preis zu verhindern. 

Der Begriff des Kalten Krieges meint genau das: einen Krieg zwischen Zivilisationen. Sein mutmaßlicher Erfinder, der Staatsmann und Schriftsteller Don Juan Manuel, nutze ihn bereits im 14. Jahrhundert und beschrieb damit den anhaltenden Konflikt zwischen Christentum und Islam. Heute meint der Begriff scheinbar jede diplomatische Verstimmung, jede zwischenstaatliche Turbulenz und jeden Konflikt, der noch nicht in handfeste Gewalt gemündet ist. Das verkennt, was der Kalte Krieg wirklich war. Die Begriffsexpansion führt zu folgenschweren Unschärfen. 

Als der Begriff nach dem Zweiten Weltkriegs von George Orwell neu erfunden wurde, meinte er eine kleine Gruppe übermächtiger Staaten („monstrous super-states“) die die Welt unter sich aufteilten. In der Realität war der Kalte Krieg trotz seiner Schrecken vor allem ein verlässliches System der internationalen Sicherheit. Die Weltordnung war eindeutig. Territorien waren klar und über Bündniszugehörigkeit bestand kein Zweifel. Kurzum: Die roten Linien waren unverkennbar. Jeder wusste, wo die Grenzen verliefen, die besser nicht überschritten wurden. Verglichen mit dem Kalten Krieg leben wir heute in einer Welt ohne System. Eine klare Ordnung gibt es nicht mehr. Es ist offensichtlich: Wir erleben keinen neuen Kalten Krieg. 

Sicher, mit Russland läuft längst ein richtiger Krieg, der an einen Stellvertreterkrieg erinnert. Doch in Wahrheit reicht der Konflikt nicht über Ost- und Mitteleuropa hinaus. Und China? Die kommunistische Partei scheint nicht besonders bestrebt, ihre Prinzipien der ganzen Welt aufzuzwingen. In Wahrheit ist China auf der Welt vielerorts deshalb beliebt, weil es sich gerade nicht sonderlich für die Regierungen, Ansichten oder Wirtschaftssysteme anderer Länder interessiert. Relevant sind einzig Handel und Investitionen. Auf dem afrikanischen Kontinent wetteifern China, Russland und auch der Westen zwar um Einfluss. Doch in Wahrheit geht es dabei um den Zugang zu natürlichen Ressourcen und Sicherheitsinteressen – nicht um den Aufbau ideologischer Einflusssphären und keineswegs um einen Kampf der Zivilisationen.

US-Präsident Biden und Chinas Staatspräsident Xi Jinping. Immer öfter wird zwischen der etablierten und der neuen Großmacht ein neuer Kalter Krieg beschworen. Doch die Analogie ist unhistorisch. 

Während des Kalten Krieges lagen die wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen den Blöcken im niedrigen einstelligen Prozentbereich der jeweiligen Handelsbeziehungen. Heute sind globale Lieferketten nicht ohne amerikanisch-chinesischen Handel vorstellbar. Auch wenn viele inzwischen gelernt haben dürften, dass Handel nicht automatisch Frieden nach sich zieht, so bedeutet dies doch, dass das Verhältnis kompliziert bleibt. Und kompliziert bedeutet: eben keine simple Aufteilung unserer Welt – wie noch zu Zeiten des Kalten Krieges. 

Was aber passiert dann gerade in unserer Welt? Auf den Untergang des sowjetischen Imperiums schien einst der unipolare Moment zu folgen. Heute wissen wir, diese Vorgänge wurden dereinst fundamental falsch verstanden. Statt einer Welt mit einzelnen Hegemonen befinden wir uns längst in einer fragmentierten Welt mit unzähligen politischen Ordnungen. Und die Mächtigen einer Ordnung dominieren längst nicht mehr alle anderen Sphären und Staaten dieser Welt. 

Indien will den Freihandel mit dem Westen stärken. Und doch vervielfacht sich zugleich vor allem der Handel mit Russland. Brasiliens Präsident Lula da Silva möchte mit den Europäern gemeinsam so tun, als würde der Regenwald gerettet werden. Doch am Krieg in der Ukraine ist das überfallene Land in seinen Augen selbst mit schuld. Ungarn oder die Türkei sind Mitglieder der NATO. Und doch verfolgen sie Interessen, die der NATO widersprechen. 

Nach Jahrzehnten der Bündnispolitik und dem Paradigma internationaler Zusammenarbeit sind wir der hobbesschen Anarchie näher denn je. Allianzen folgen auch heute nicht Werten und Überzeugungen, sondern dem Nutzen und der Bequemlichkeit. Internationale Politik ist rücksichtlos und gefährlich. Wir sollten aufhören zu versuchen, ein System zu sehen, wo es gar kein System gibt. Erst durch diese Fehleinschätzung lassen wir Staatenlenker wie Xi Jinping oder Vladimir Putin allmächtiger wirken, als sie in Wirklichkeit sind. 

Für immer abgehängt?

Im 33. Jahr der deutschen Einheit sind die Gräben zwischen Ost und West scheinbar tiefer denn je. Der Ostdeutsche ist für den Wessi offenbar immer noch ein unbekanntes Wesen. Der Ossi fühlt sich zurückgesetzt und bevormundet. Und die Politik? Sie vermeidet schlichtweg das Thema.

Von Klaus Kimmel

„20 Jahre“ war 1991 meine Antwort auf die Frage des Chefs eines großen deutschen Verlages, wie lange es bis zur wirklichen Einheit dauern wird. Nach ungläubigen Lachen folgte von ihm voller Überzeugung: „In maximal zehn Jahren ist das geschafft.“

Heute wissen wir: Wir beide haben uns geirrt. Im Jahr 33 nach der offiziellen Einheit sind wir von einer wirklichen Einheit noch weit entfernt. Gewiss gibt es zwischen Usedom und Oberhof die versprochenen blühenden Landschaften und ein gewachsener Wohlstand ist unübersehbar. Straßen, wo einst nur Sandwege waren, schmucke Häuser statt Einheitsgrau und Verfall sowie Zweitwagen statt Trabant in der Garage. Da sieht es in manchen Orten an der Ruhr deutlich trister aus. Nur Ignoranten oder ideologisch Verbohrte streiten das ab. Die dunklen Zeiten will selbst die LINKE nicht zurück.

Gleichwohl scheint der Graben zwischen den Menschen in Ost und West heute tiefer denn je. Längst verblasst der Einheitstrubel. Der Ossi ist für einen Großteil der Westdeutschen das unbekannte Wesen. Warum sind ausgerechnet die Diktaturgeschädigten Putin-Versteher und notorische Rechtswähler? Warum Ewig-Nörgler, aber nur bedingt leistungswillig? Warum sind sie nicht froh über das nie gekannte Konsumangebot und einen Sozialstaat, von dem Menschen in anderen postkommunistischen Ländern nur träumen können?

Die Politik mogelt sich mehr oder weniger gekonnt an den Antworten vorbei. Dauerkanzlerin Angela Merkel hat sich in ihren 16 Jahren Amtszeit nie so recht darum gekümmert. Für die Galerie darf sich ein sogenannter Ostbeauftragter zusehends erfolglos daran abarbeiten. Mit deutlich mehr Tiefe (aber weniger Einfluss) suchen Literaten Antworten auf diese und ähnliche Fragen. Jüngst der Leipziger Literaturprofessor Dirk Oschmann, der 2011, 20 Jahre nach der Einheit, als erster Ostdeutscher auf einen regulären Lehrstuhl für neuere deutsche Literaturwissenschaften berufen wurde. Mit seinem Buch „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ provoziert er bewusst überspitzt und legt den Finger in die Wunde, macht so eine andere Annäherung auf die Beantwortung der Fragen möglich. Die teils heftigen Reaktionen von Politik und Medien machen dabei einmal mehr deutlich, dass die westliche Gesellschaft bis jetzt zu keinem Zeitpunkt gewillt war, sich im Einigungsprozess auch nur um ein Jota zu verändern und eigene Ansichten auch nur infrage zu stellen. Selbst um Nichtigkeiten wie die TV-Präsenz des gerade mit dem Grimme-Preis ausgezeichnete Ost-Sandmännchens gab es lange Diskussionen. Der „Grüne Pfeil“ ist bis heute für viele rätselhaft – und die Wiederauferstehung der verteufelten Polikliniken als nunmehrige Ärztezentren ist sinnhaft, aber nur dem ökonomischen Druck zuzuschreiben.

Nach Ossmann sind die politischen, sozialen, wirtschaftlichen Probleme darauf zurückzuführen, dass der Osten permanent abgewertet und benachteiligt wird: „1990 brauchte es einen Elitenwechsel. Aber der Wechsel hat sich zementiert. Die aus dem Westen stammenden Systemeliten rekrutieren sich nachweislich nur aus sich selbst“. Durch die Besetzung der wichtigen Schaltstellen mit Wessis wurde der Osten systematisch einer gesellschaftlichen Teilhabe beraubt, einen eigenen öffentlichen Diskurs zu entwickeln. Die ZEIT stellt diesbezüglich fest: Der Westen führt den Diskurs „zynisch, herablassend, selbstgefällig, ahistorisch und selbstgerecht“. Auch der komplett westdeutsch ausgerichtet Mediendiskurs sei „extrem vorurteilsbeladen, herablassend und tendenziös. Der Ostdeutsche fühlt sich, als sei er das Allerletzte.“

Mit fatalen Folgen: Mit dem über Jahre zurückgewonnenem einstigen (Wende-) Selbstbewusstsein ist eine deutliche Abkehr von den für richtig angesehenen (West-)Werten erkennbar. Immer mehr Ossis finden sich aus purem Frust in lautstarken Protestgruppen überwiegend rechter Couleur wieder und befeuern den Ruf der AfD, eine Ostpartei zu sein. Mithin, deren Führungsriege ist bis auf Tino Chrupalla ausschließlich aus dem Westen und bedient sich geschickt des ostdeutschen Unmutes. In der Politik artikulieren Ministerpräsidenten wie Michael Kretschmer (Sachsen) oder Reiner Haseloff (Sachsen-Anhalt) immer deutlicher auch gegen eigene Parteiorder ostdeutsche Positionen.

„Ja, es stimmt: Es gehört zu westdeutschen Selbstverständlichkeiten, sich selbst zur Norm zu setzen und alles Ostdeutsche als Abweichung wahrzunehmen“, schreibt Steffen Richter im „Tagesspiegel“. Deshalb bedurfte es auch keines großen politischen Planes, der zu den inzwischen hinlänglich bekannten West-Ost-Verwerfungen führte. Richter weiter: „Ja, es ist richtig: Spitzenpositionen in Wissenschaft, Verwaltung, Jurisprudenz oder Wirtschaft werden zu lächerlichen Anteilen von Ostdeutschen besetzt, im Schnitt liegt der Verdienst im Osten um 22 Prozent, unter dem im Westen, vererbt wird im Osten weniger als im Westen, ostdeutsche Immobilien gehören zu großen Teilen Westdeutschen.“

Schauen wir uns die Fakten genauer an. Von 3.639 Führungspositionen in oberen Bundesbehörden sind 13,5 Prozent Ossis, ohne Berlin sogar nur 7,4 %. In der Justiz sind lediglich 5,1% der Richter gebürtige Ossis. Die von der Föderalismuskommission von Bundestag und Bundesrat 1992 getroffene Entscheidung, Bundesbehörden und Forschungseinrichtungen vorrangig im Osten anzusiedeln, ist nie umgesetzt worden. Der Lohnunterschied bei Vollzeitbeschäftigten liegt bei 19,9 % bzw. 839 Euro brutto/Monat, der durchschnittliche Monatslohn West beträgt 4.218 Euro, Ost 3.379 Euro (brutto). Anders gesagt: 20 Prozent des Jahres – bis zum 14. März – arbeiten die Ossis rein rechnerisch unbezahlt. Das ist ungehörig und nicht mit geringer Produktivität zu begründen.

Großkonzerne führen ihre Steuern an den Stammsitzen im Westen ab, der Osten wird als verlängerte Werkbank wahrgenommen. Im Westen wird bereits an die dritte Generation vererbt, die nach einer Studie des Deutschen Instituts für Altersvorsorge (DIA) die vermögendste Erbengeneration aller Zeiten ist. In Baden-Württemberg und Bayern werden so pro Kopf rund 175 000 Euro vererbt. Im Osten hingegen entwickelt sich gerade Generation Nr. 1, in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg werden im Schnitt 23.000 vererbt. In den alten Bundesländern gehören in mehr als 50 Prozent der Fälle Immobilien zum Nachlass, im Osten, seit 1949 im Prinzip ein Land ohne Privateigentum, nur in jedem dritten Erbfall. Zwar ist der Anteil der Immobilieneigentümer seit der Wende in Ostdeutschland trotz niedriger Löhne von nur rund 25 Prozent auf etwa 40 Prozent angestiegen. Verglichen mit Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz oder Schleswig-Holstein ist das aber immer noch wenig. Dort liegt die Quote bei fast 60 Prozent. Östliche Landesregierungen tun zudem noch das Ihrige dazu, den Eigentumserwerb zu erschweren. Die Grunderwerbssteuer in Thüringen und Brandenburg sind mit 6,5 bzw. sechs Prozent in Mecklenburg-Vorpommern Spitzenwerte in Deutschland! Das wohlhabende Bayern verlangt gerade drei, Baden-Württemberg und Niedersachsen jeweils fünf Prozent. Wen wundert da, dass bei der Bildung von Wohneigentum das Niedriglohnland Mecklenburg-Vorpommern auf dem letzten Platz liegt. Begehrte Grundstücke und Häuser entlang der Küste gehen so fast durchweg an betuchte Käufer aus Hamburg und Berlin.

Das alles verheißt keine rosigen Aussichten. Westlöhne werden nicht in Windeseile kommen. Auch große Erbschaften werden erst in Jahrzehnten (wenn überhaupt) fällig. Stichwort Elitenbildung: Nur ganz wenige Ostdeutsche können ihren Kindern schon Eliteinternate wie in Salem (Baden-Württemberg) mit 50 000 Euro im Jahr oder den Besuch von Elite-Universitäten etwa in den USA finanzieren – Orte, wo die Netzwerke der Zukunft geknüpft werden. Die Politik lässt auch nicht im Ansatz erkennen, über steuerliche Regelungen, ein Grunderbe für die jüngere Generation oder wirksame Sonderfonds den originär Ostdeutschen ernsthaft ein Aufschließen zu ermöglichen. Das alles schafft Abkehr von der Demokratie, Frust und Wut. Die zunehmende staatliche Gängelung malt längst einen „Sozialismus mit Westgeld“ (Thüringens CDU-Chef Mario Voigt) an die Wand, auf den die Bürger nun wirklich keinen Bock haben. Sabine Rennefanz stellt im Tagesspiegel resignierend fest: „Viele Ostdeutsche dachten nach 1989, wenn sie viel leisten, fleißig sind, wird das belohnt. Mit Wohlstand, Zugang zu Konsum und gesellschaftlicher Anerkennung. Dann kamen Massenarbeitslosigkeit, Hyper-Globalisierung und die Erkenntnis, dass in der Bundesrepublik weniger Leistung, sondern vor allem die richtigen Netzwerke und Herkunft zählen.“ Wie einst in der hinweggefegten DDR: Da musste man zur Arbeiterklasse (sprich: Parteielite) gehören und über Seilschaften verfügen…

Den Westen „überholen, ohne einzuholen“, dieses von Walter Ulbricht proklamierte Ziel war schon im real dahinsiechenden DDR-Sozialismus eine fixe Idee. Die große Mehrheit der Ossis muss jetzt tapfer sein und lernen: Selbst das Einholen wird in der Jetztzeit nicht Wirklichkeit werden – abgesehen von Einzelfällen erfolgreicher Erfinder (so hießen früher Start-ups), Unternehmer, Künstler oder Wissenschaftler. Diverse Studien belegen, dass das Einholen aufgrund der bestehenden Eigentumssituation rein mathematisch nicht möglich ist. Der technologisch teilweise hochmoderne deutsche Osten wird in den Lebensverhältnissen auf lange Zeit weiter abgehängt dem Westen hinterherhinken. Über 40 Jahre Verteufelung des Privateigentums im Osten unseres Landes sind eine zu große Hypothek mit ganz langer Laufzeit. Daran aber ist der Westen nun wirklich nicht schuld.

Aufbruch in die digitale Moderne

Verwaltung verlangt nach Vorgaben für das Vorgehen und Umgehen mit dem zu Verwaltenden: uns. Ohne eindeutige Vorgaben scheitert dieser Umgang und stagniert das Vorgehen. So gibt es Vorgänge, die Jahrgänge hindurch Stapel bilden, deren Existenz möglicherweise sogar eine Versicherung des Fortgangs des Altbewährten gewährt, für den, der verwaltet. Der verwaltete Mensch aber findet sich in einer Ödnis des Wartens wieder, die sich Beckett nicht hätte besser ausdenken können und die gleich der Wüste Nietzsches wächst. Früher oder später aber erblickt jeder Wüstenversetzte einen Hoffnungsschimmer. In unserem Fall erspäht der Mensch die Digitalisierung.

Ein Gastbeitrag von David Mews

Heute bedeutet Funktionieren Schnelligkeit und Schnelligkeit bedeutet Stabilität. Verwaltung bedeutete Stabilität, als Schnelligkeit noch Übereilung hieß und mit der Erfahrung untrennbar verbunden war, dass Eile unvermeidliche Nähe zu Missgeschicken und Fehlern besitzt. Geschwindigkeit ist das Maß für die Bewertung von Stabilität geworden. Und Stabilität bleibt der Garant für die Bürgerruhe im Staat. Der immer schneller sich bewegende Mensch erfordert daher auch eine immer schneller arbeitende Verwaltung.

Verwaltet die Verwaltung in unangepasstem Tempo, dann entsteht das Umkehrbild, dass sie den emsigen Menschen von heute überhaupt nicht mehr verwaltet – sie wartet früher oder später auf das zu Verwaltende. Ein Lapsus, der leicht übersehen werden kann. Doch wie jede Lücke sofort eine sie füllende Neuplatzierung erhält, so findet auch das ‚gap‘ der hinkenden Verwaltung eine Deplatzierung und einen Kontrahenten: Dateninhaber, Unternehmen und Algorithmen, die mit der Geschwindigkeit der Moderne mithalten, werden fleißig und freiwillig vom Menschen mit zu verwaltenden Informationen ausgestattet.

Eine Schar von Staatssatelliten im Staat?

Die Digitalisierung der deutschen öffentlichen Verwaltung ist in (vollem) Gang. Ein Grund zur Annahme einer erfolgreichen Stabilisierung? Anzunehmen ist, dass dies von Beteiligten geglaubt wird. Dies hängt mit dem Vertrauen in altbekannte Strukturen zusammen, mit der mentalen Einstellung einer Verwaltung. Zu befürchten ist aber das Gegenteil: der zunächst nicht aufgedeckte und aus “dem Inneren der Flasche” nicht leicht erkennbare Abbau und Verlust an Stabilität. Man kann zwar nicht behaupten, dass die digitale Transformation in der öffentlichen Verwaltung mit Übereile von Statten geht. Hier liegt möglicherweise auch ein Grund für das eigentliche Mentalpaket: das geistige Gepäck des Ausharrens. Andererseits ist es ebenso verkehrt zu glauben, dass die Langsamkeit der anlaufenden Digitalisierung ungefährliche Prozessevolution bedeutet.

Tatsächlich sehen wir eine Aufbauemsigkeit, die in ihrer von Erfolgsmeldungen gefärbten Geschwindigkeit des Wachstums der realen Digitalität des Prinzips Verwaltung keineswegs entspricht. Prozesse, die aufbauen, ohne zu wissen, was sie selbst sind, wo sie selbst sind und ohne die Vorausschickung eines ursächlich notwendigen Umbaus der Systeme für die Existenz eines geeigneten Baugrundes des geplanten Aufbaus, scheitern und scheitern nicht nur, sondern beschädigen zugleich den Bestand auf eine Weise, dass eine Brache entsteht, die erst lange wieder fruchtbar gemacht werden müsste, wofür dann aber meist keine Zeit mehr ist.

Die wesentlichen Parameter

Erneuerungen werden immer noch der Struktur der öffentlichen Verwaltung ausgesetzt und nicht umgekehrt. Das Zukunftsweisende der Digitalisierung ist eine Genese eines Denkens im Digitalen, nicht die Abbildung des Bisherigen. Darum muss die öffentliche Verwaltung digitalisiert werden. Entscheidend könnte jetzt die Antwort auf die Frage sein, was eine wirkliche Modernisierung ist? Was heißt Moderne?

Digitalisierung als Modernisierung ist noch die Verhinderung einer Modernisierung. Einfach zu erkennen ist das daran, dass es zwei Tempi gibt, die nicht harmonisch aufeinander aufbauen, sondern gleichzeitig anzutreffen sind. Die Digitalisierung aus dem Geiste der Verwaltung, wie sie ist und war, eilt. Die Digitalisierung aus einem Verstehen und einem originär innovativen Denken im Digitalen ist nicht einmal gestartet oder unendlich langsam. Letztere ist aber die, die den modernen Menschen erfasst hat und seinen Alltag außerhalb von Amtsgängen begleitet. Dabei ist es zugegebenermaßen nicht leicht, den politischen Interessen schneller, wahlperiodimmanenter Erfolge in Sachen Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung zu begegnen, als Verwaltung.

Es ist nicht leicht, die Gleichzeitigkeit zu bemerken, mit der ein Aufbau geschieht, dem kein geeigneter Umbau vorangegangen ist. Wir leben in der Zeit der Ausklammerung des notwendigen mentalen Umbaus. Immer noch existiert es, das Vertrauen auf die ewige Wiederkehr eines Zustands der Allmählichkeit, wie einer heimlichen Garantie auf eine unerschütterliche Stabilität. Doch kein Weg wird schneller durch den Gang in die falsche Richtung. Letztlich lautet der Begriff des Jahres Verantwortungsmodernisierung. Dieser verlangt aber vorrangig des Umbaus des Strukturdenkens. Ein großer, zeitgemäßer und in planetarischer Strategiementalität angelegter Umschwung der Strukturen der öffentlichen Verwaltung, möglicherweise. Ein Auffinden von positiven Einzelbeispielen, möglicherweise.

Einzelne, manchmal kleine Gruppen, gibt es bereits, die das erkannt haben. Es sind die zu Mut Bereiten, die in der öffentlichen Verwaltung jetzt schon das tun, wozu das System erst noch seine gesamthafte Metamorphose durchlaufen muss und wird: Das Verwalten als Haltung muss sich verändern, wenn der Staat seine Funktion und Stabilität in der eigenen Hand halten will.

Was ist Moderne anderes, als die Verzückung oder das Wagnis einer neuen Haltung?

Alter weißer Mann, was nun?

Für alle Übel und das Böse in unserer Welt haben die Kulturrevolutionäre der Politischen Korrektheit einen Sündenbock gefunden: den alten, weißen Mann. Er steht für Kolonialismus, Rassismus und Sexismus; er soll schuld sein an der Armut der Dritten Welt, an der Zerstörung der Natur und am menschengemachten Klimawandel. Wenn man den Sündenbock in die Wüste schicken könnte, gäbe es keine Diskriminierung mehr, die Welt wäre endlich friedlich, tolerant, divers, bunt, und die Menschen stünden wieder im Einklang mit der Natur. Das ist der Kern einer Erzählung, die heute von den meisten Medien und Bildungsanstalten verbreitet wird.

Ein Gastbeitrag von Prof. Norbert Bolz

Der Hass ist wie das Böse so alt wie die Menschheit. Es gibt also keinen Grund für Kulturpessimismus: Wir sind nicht schlimmer geworden. Aber der alte Hass hat durch die neuen Medien eine neue Sichtbarkeit gewonnen. Wie oft möchte man seiner Wut freien Lauf lassen, reißt sich dann aber doch zusammen. Eine interessante alltägliche Ausnahme davon bietet uns das Autofahren. Da kann man dem unfähigen anderen dann doch durch die Windschutzscheibe unhörbar zurufen: Penner, Idiot! Oder gar den berühmten Mittelfinger zeigen. Die Begegnung dauert ja nur eine Zehntelsekunde. Genau denselben Enthemmungseffekt haben die Sozialen Medien. Der griechische Philosoph Platon meinte einmal: Wir sind alle Mörder – aber im Traum. Nur einige wenige tragen diesen Hass dann in die Wirklichkeit.

Und offensichtlich versetzen uns die Medien in eine Traumzeit, die vor allem von Prominenz bestimmt wird. Seit es Massenmedien, aber vor allem seit es Soziale Medien gibt, fühlen sich viele Menschen mit den Berühmten, Erfolgreichen und Mächtigen auf Augenhöhe. Prominenz provoziert »Hater«. Denn der »Hater« ist ein Niemand, ein Verlierer, ja oft ein Wahnsinniger. Auch er ist so alt wie die Menschheit. Aber heute ist er nicht mehr allein. Das Internet hat den Verlierern dieser Welt zum ersten Mal die Chance eröffnet, sich zu organisieren. Ein Verrückter war früher ein Sonderling, ein Außenseiter der Gesellschaft. Heute findet er seinesgleichen massenhaft im Internet. Jeder Wahnsinn hat seine Website.

Wenn man sich das klar macht, wird auch deutlich, wie eng das Thema Hass mit dem Thema Lüge verzahnt ist. Und es wird auch klar, warum die Kräfte der Aufklärung hier vergeblich arbeiten. Wer heute gegen »Fake News« kämpft, muss an die Idee der Objektivität appellieren. Aber das ist problematischer denn je. In den goldenen Zeiten der Aufklärung war man sich noch sicher, dass man Ideologien entlarven und den betrügerischen Schein durch die Wahrheit ersetzen kann. Doch im Zeitalter der Informationsüberlastung fehlt uns die Zeit zur Prüfung. Was der Sozialphilosoph Jürgen Habermas einmal die neue Unübersichtlichkeit nannte, ist zum Normalfall geworden. Die Welt ist hochkomplex, hochgeschwind und unprognostizierbar.

In seinem neuen Buch analysiert Norbert Bolz den Begriff und zeigt, dass der alte weiße Mann zur zentralen Symbolfigur in einem kulturellen Bürgerkrieg geworden ist.

An der Flüchtlingskrise können wir uns dieses Problem genauso gut klarmachen wie an den Corona-Maßnahmen oder der galoppierenden Inflation. Alles scheint ungewiss – sicher ist nur das Gefühl des Kontrollverlusts. Was soll in diesem Zusammenhang nun aber »objektive Berichterstattung« heißen? So tritt die Glaubwürdigkeit einer Informationsquelle an die Stelle des unmöglichen Realitätstests. Das gilt übrigens auch für die »Nachrichten aus aller Welt« – man denke nur an den Ukraine-Krieg. Immer häufiger haben die Medien gar keinen Reporter mehr vor Ort und müssen sich dann auf das Material der beteiligten Konfliktparteien verlassen. Im Fernsehbild sieht man dann zum Beispiel die Einblendung »Quelle: YouTube«. Damit gesteht man immerhin ein, dass man von Objektivität meilenweit entfernt ist. Der Soziologe Niklas Luhmann bemerkte einmal, dass wir unser Wissen von der Welt den Massenmedien verdanken. Um dann aber sarkastisch hinzuzusetzen, dass es sich eigentlich um ein Nichtwissen handelt, das nur deshalb nicht als solches erkannt wird, weil wir immer wieder durch neue Informationen überflutet werden. Dass die Nachrichten mit ihren Fakten nicht Wissen, sondern Nichtwissen produzieren, ist zunächst einmal eine steile These, die provozieren will. Aber sie bekommt doch einen guten Sinn, wenn man bedenkt, was Informationen eben nicht liefern: Kontext. Nur freie Assoziation wäre in der Lage, in den fünfzehn Minuten »Tagesschau« einen Zusammenhang zu sehen. Aufklärung jedenfalls ist das nicht. Deshalb kann es nicht erstaunen, dass die Menschen auf der Suche nach Orientierung nicht nach Fakten, sondern nach Fiktionen verlangen. Und hier wird eine zweite Naivität der Aufklärung deutlich, der Glaube nämlich, dass die Menschen die Wahrheit suchen und den Schein fliehen.

Der Kulturhistoriker Johan Huizinga hat die extreme Gegenthese gewagt: Wir wollen betrogen werden. Das klingt in den Ohren eines Aufklärers natürlich ungeheuerlich. Aber man muss nur an die Werbung denken, um sofort zu verstehen, was gemeint ist. Kein halbwegs normaler Mensch glaubt wirklich, dass es Cremes gibt, die Falten und Orangenhaut beseitigen, oder dass es Tinkturen gibt, die Haarausfall stoppen. Aber es ist schön, sich eine Zeit lang der Illusion hinzugeben. Man will sich selbst täuschen und ist der Werbung dankbar dafür, dass sie dabei hilft. Und genau das machen sich die Produzenten von »Fake News« zu nutze. Falschmeldungen wirken nämlich auch dann, wenn man weiß, dass sie falsch sind. Das markiert die Grenze jeder möglichen Aufklärung. Wenn jemand betrogen werden will, um bessere Empfindungsbedingungen zu haben, kann man ihm nicht mit besseren Argumenten kommen. Und gegenüber dem Chaos der Fakten aus aller Welt hat der Wahn den Vorteil, Ordnung zu schaffen.

„Der alte, weiße Mann – Sündenbock der Nation“ von Prof. Norbert Bolz, ist im Verlag Langen-Müller erschienen. 265 Seiten – 24,00 Euro.